Es war einmal ein Strahlentierchen

Die Erdgeschichte aus Sicht meines Briefbeschwerers
Es war einmal, vor 440 Millionen Jahren, im Erdaltertum, dem Paläozoikum. Die Dinosaurier gab es noch nicht, sie tauchten erst später auf. Da lebte in einem tropischen Meer, an einer Stelle des Ur-Ozeans, die wir heute Oberfranken nennen, ein Strahlentierchen. Es war eines der größeren, und tatsächlich einen halben Millimeter groß! Es bestand nur aus einer Zelle und hatte kein Gehirn, konnte aber auch so ganz gut leben.

Es fraß Algen und Bakterien, und wenn es mal keine frischen gab, begnügte es sich auch mit abgestorbenen Einzellern. Es war schon ziemlich alt. Ein halbes Jahr lebte es schon, hatte für Nachwuchs gesorgt, und so kam es, dass es eines Tages starb. Sein Fleisch wurde schnell von anderen Einzellern wie Bakterien gefressen, den Rest nutzten Algen als Dünger. Übrig blieb sein Skelett, das aus Opal, einem Material ähnlich dem Quarz und den Kieselsteinen bestand. Dieses sank nach unten auf den Meeresgrund, wo es mit den Überresten seiner Vorfahren und Nachfahren den Boden mit einer dicken Schicht schwarzem Radiolarien-Schlamm bedeckte.
Skelette von Strahlentierchen (Radiolarien), gezeichnet von Ernst Haeckel 1862, Abb. Gemeinfrei
Strahlentierchen (Radiolarien), gezeichnet von Ernst Haeckel 1862

Die Dinosaurier

200 Millionen Jahre lang sank der Boden immer tiefer und andere Schichten von Schlamm legten sich darüber. Die Variszische Orogenese (variskische Gebirgsbildung) gestaltete unsere Gegend um, die sich damals noch an ganz anderer Stelle der Erdkugel befand, inmitten des einzigen großen Urkontinents Pangaea. Schließlich entwickelten sich allmählich große Tiere, welche die Erde dominierten, die Dinosaurier. Die Schlammschicht mit unserem Strahlentierchen-Skelett wurde immer mehr zusammengedrückt und fest und hart.

Die Säugetiere

Weitere 140 Millionen Jahre später gab es eine starke Erschütterung. Ein großer Asteroid hatte die Erde getroffen. Die Explosion des Einschlags verdunkelte die Sonne für viele Jahre, viele Pflanzen konnten nicht mehr wachsen, und so kam es, dass die Dinosaurier ausstarben. Andere kleine Tiere, die bis jetzt größtenteils unter der Erde gelebt hatten, übernahmen die Führungsrolle: Die Säugetiere.
Skelette von Strahlentierchen (Radiolarien) aus "Kunstformen der Natur" von Ernst Haeckel, 1904, Abb. Gemeinfrei
Strahlentierchen (Radiolarien) aus "Kunstformen der Natur" von Ernst Haeckel, 1904

Der Mensch

65 Millionen Jahre nach diesem Meteoriteneinschlag entwickelte sich, kurz vor unserer Gegenwart, aus affenähnlichen Tieren eine neue Spezies, der Mensch. In dem langen Zeitraum dazwischen war der Meeresboden mit dem Skelett unseres Strahlentierchens in der Tiefe durch das Gewicht der Erdschichten steinhart geworden, hob sich aber irgendwann langsam, weil andere Teile der Erdoberfläche gegen den Erdteil drückten, den wir heute Europa nennen. Von den filigranen Formen seines Skeletts war nach diesen Torturen nichts mehr zu erkennen, nur eine einheitliche schwarze Masse, vor allem aus Kieselsäure.

Der Fluss

So wurde der ehemalige Meeresboden schließlich zu Hügeln, Felsen und Flusstälern. Regen schwemmte lockeren Boden in die Flüsse und ins Meer, und so kam es, dass die steinharten Skelettreste von Milliarden von Strahlentierchen beim heutigen Ludwigschorgast und Untersteinach freigelegt wurden und an der Erdoberfläche lagen. Wasser in Felsspalten gefror im Winter, und eines Tages wurde dadurch ein Stück dieses harten schwarzen Gesteins herausgebrochen und fiel in den Fluss, den wir heute  Weißer Main nennen. Die Strömung schob den Stein jedes Jahr ein paar Millimeter weiter flussabwärts. Nach Kulmbach, das es damals noch nicht gab, kam der Rote Main dazu, und zum Schluss lag der schwarze Gesteinsbrocken am Mainufer bei Unterleiterbach, dunkel zwischen weißen Kieselsteinen. Geologen haben die harte, schwere Gesteinsart Lydit genannt.

Lydit, Radiolarit, Kieselschiefer

Die Menschen hatten gelernt, sehr praktische Fortbewegungsmittel zu bauen, wie Autos und Fahrräder. Und so kam es, dass mir am 23. April 2023 am Main inmitten von weißen Kieselsteinen ein schwarzer Stein auffiel. Er war auf seiner Wanderschaft im Fluss von den anderen Steinen rund und glatt geschliffen worden, lag angenehm schwer in der Hand und landete schließlich in der Sattelpacktasche meines Fahrrads.

Heute liegt er unscheinbar als Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch. Ab und zu nehme ich ihn in die Hand und denke an die Zigtausende von Strahlentierchen (Radiolarien), deren Skelette vor 440 Millionen Jahren diesen Stein gebildet haben.

Was wird wohl aus ihm werden, in Jahrhunderten, Jahrtausenden, Jahrmillionen, wenn ich längst nicht mehr bin?
Lydit, in Jahrmillionen im Kies des Flussbetts glattgeschliffen
Lydit, Radiolarit oder Kieselschiefer

Plankton

Auch heute noch gibt es Strahlentierchen. Mit ihrer Größe zwischen 0,05 bis 0,5 mm gehören sie in den Meeren zum Plankton, das sich von den Meeresströmungen rund um die Welt treiben lässt und einen großen Teil der Biomasse der Erde bildet. Selbst riesige Tiere sind als Spitze der Nahrungskette davon abhängig. Bartenwale wie der Blauwal und der Finnwal filtrieren es direkt aus dem Meerwasser.

Fossilien

Nur an wenigen Stellen der Erde blieben Strukturen von Strahlentierchen erhalten, die aus Jahrmillionen alten Zeiten der Erdgeschichte stammen. An der Evolutionstheorie, die heute oft einfach Charles Darwin zugeschrieben wird, waren über die Jahrtausende viele Denker beteiligt. Schon im antiken Griechenland spekulierten im 6. Jahrhundert vor Christus die Naturphilosophen Thales von Milet und Anaximander darüber, dass das Leben im Wasser, oder zumindest in feuchter Umgebung entstanden sein müsste. 200 Jahre später war es  Aristoteles, der die Urzeugung im Schlamm und Schmutz vermutete. Mit unseren modernen Mikroskopen wissen wir heute, dass Schlamm und Schmutz sehr belebt sein kann und dass die antiken Philosophen gar nicht so falsch lagen. In geologischen Zeiträumen von hunderten Jahrmillionen konnten auch sie sich allerdings nicht zu denken wagen.

Danach sorgten Judentum, Christentum und Islam für eine 1500 Jahre lange Unterdrückung dieser genialen Erkenntnisse. Die legendenhafte Schöpfung der Welt im Tanach und der Tora mit einer Unveränderlichkeit der Arten wurde Grundlage auch unserer Bibel. In den schlimmsten Zeiten wurden anders Denkende von der Inquisition im Auftrag der Kirche gnadenlos gefoltert und getötet. Erst das Zeitalter der Renaissance und Aufklärung brachte eine Wende. Auch heute noch gibt es Menschen, die glauben, Gott hätte die Fossilien vor 6000 Jahren einfach mit erschaffen. Warum hätte Gott (oder die Göttin?) so etwas tun sollen?

Die Evolution

In der Neuzeit, im Anschluss an das Mittelalter, wurde eine Veränderung und allmähliche Entstehung der Arten, ein Artenwandel, im Prinzip wieder denkbar.  Leonardo da Vinci fragte sich um 1500 nach Christus, wie es sein kann, dass man Fossilien von Meerestieren hoch auf Bergen finden kann. Er widersprach der gängigen Lehrmeinung der Kirche, dass sie durch die Sintflut da hinauf gekommen wären (Schriftensammlung Codex Leicester, Codex Hammer).

Aber erst 1809 war Jean-Baptiste de Lamarck mit seiner Philosophie zoologique ein Vorreiter. Letztlich griff er Gedanken von Aristoteles auf und entwickelte sie weiter. Charles Darwin wurde mit seinen Berichten über seine Weltreisen sehr bekannt. Mit seinen eigenen Forschungen, die er unter dem Titel Über die Entstehung der Arten veröffentlichte, gilt er für viele als Gründer der Evolutionsbiologie. Mit seiner Theorie, dass auch der Mensch aus primitiveren Arten durch evolutionäre Selektion entstanden sein müsste, stellte er sich gegen die Schöpfungsgeschichte der Kirchen.

Auch heute noch gibt es christliche Fundamentalisten, die sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die biologische Evolution verweigern. Tatsächlich kann man eine, wenn auch geringe, Möglichkeit nicht ausschließen, dass Gott uns mit der Erschaffung der Fossilien nur zum Narren halten (prüfen!) will.

Diese Geschichte vom Strahlentierchen ist wahr, jedes Wort.
Andere sind Phantasie:



©2023 by
Erwin Purucker
Bücher über Geologie

Flüsse, Landschaften, Felsformationen

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