Das Baby
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Es war einmal eine Mutter, die war bereit, die Verantwortung für ihr Baby zu
übernehmen. Laut Erich Fromm, "Die Kunst des Liebens", bedeutet Verantwortung
auf die ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen zu
antworten, wozu natürlich eine gewisse Sensibilität und entsprechendes
Interesse am Wohlergehen dieses anderen gehört, um diese Bedürfnisse überhaupt
wahrnehmen und entsprechend reagieren zu können - dieses nur am Rande bemerkt.
Es war also einmal diese Mutter, die bereit war, genau dies für und mit ihrem
Baby zu tun. Sie liebte ihr Baby und wünschte von Herzen, dass es wuchs und
gedieh und zu einem glücklichen Menschen wurde. Das Baby schrie, und die Mutter
tat alles Notwendige, damit es dem kleinen Wesen, das total von ihr abhing und
bei allem auf sie angewiesen war, wieder gut ging.
Dieses Baby hatte noch einen zweiten Elternteil, einen Vater, der eigentlich
als zweiter Erwachsener in dieser Familie genau die gleiche Verantwortung für
sein Baby übernehmen sollte wie die Mutter. Aber dieser Vater sah, wie viel
Aufmerksam diesem schreienden Bündel geschenkt wurde, all die Aufmerksamkeit,
die vorher er ganz allein erhalten hatte. Irgendwie wurde ihm da etwas
genommen, nämlich seine Frau.
Eines nachts war es wieder soweit, das Baby schrie, und die Mutter wollte das
Selbstverständlichste tun, was eine Mutter in so einer Situation tut - wenn sie
niemanden hat, der es ihr zwischendurch mal abnimmt, damit sie auch mal eine
Nacht durchschlafen kann - sie stand auf, bzw. wollte aufstehen. Da hielt der
Vater sie fest mit den Worten: "Am Tage gehörst du dem Kinde, aber des nachts,
da gehörst du mir", und die Frau gehorchte, so wie es sich für eine gute
Ehefrau geziemt. Das Baby schrie und schrie. Der Mutter brach es fast das Herz.
Es tat ihr in der Seele weh, wie das Baby sich die Seele aus dem Leibe schrie,
aber sie blieb liegen. Schließlich war sie eine gute Ehefrau, und die
widerspricht ihrem Manne nicht.
Und die Moral von der Geschicht? Was hat wer gelernt?
·Der Vater hat gelernt, wer bedürftig ist, bekommt die Zuwendung der Mutter,
also wurde er bedürftig und erhielt sie auch.
·Die Mutter hat gelernt, sich zwischen Vater und Baby aufzuteilen. Der
Erwachsene wird tagsüber allein gelassen, nachts das Baby. Sie fühlt sich
unwohl bei dem Gedanken, das hilflose Baby dem selbständigen erwachsenen Mann
gleichzusetzen, aber sie tröstet sich mit dem hirnverbrannten Quatsch der
männlichen Ärzte und Forscher, die den Müttern einreden, dass es gut sei, ein
Baby schreien zu lassen, weil das deren Lungen kräftigt.
·Das Baby hat auch sehr schnell gelernt. Es hat gelernt: Brüllen lohnt sich
nicht, mich hört ja doch keiner. Mitten in der Nacht, im Dunkeln, wenn sich
selbst manche Erwachsenen und viele ältere Kinder fürchten, wird es einfach
seinem Schicksal überlassen. Ein Pups sitzt quer - das schmerzt; die Windel ist
voll - das schmerzt; es hat Hunger - das schmerzt; es hat Sehnsucht nach Mama -
das schmerzt; es hat ... - und das schmerzt. Aber am allermeisten schmerzt es,
ausgerechnet von den Menschen allein gelassen zu werden, die es liebt, denen es
vertraut und deren Wohl und Wehe es zu 100% ausgeliefert ist - wie sich jetzt
herausstellt. Wenn das Baby diesen Schmerz des Alleingelassenwerdens und
völligen Ausgeliefertseins fühlen würde, würde es nicht überleben können.
Dieser Schmerz würde das Baby umbringen. Also verdrängt es den Schmerz, fühlt
ihn nicht und hört einfach irgendwann auf zu schreien. Manche Babies kapieren's
sofort, andere brauche etwas länger dafür, aber der Preis ist immer derselbe:
Verleugnung des Schmerzes dieses totalen Ausgeliefertseins in einer völlig
hilflosen Lage.
Inzwischen ist unser Baby erwachsen und selber Vater. Das Schreienlassen des
nachts hat ihm nicht geschadet - behauptet er, und läßt nun sein Baby nachts
schreien. Ihm hat es ja auch nichts geschadet. Er kann es ertragen, sein
geliebtes Kind von 3 Uhr bis zum Frühstück schreien zu lassen- im selben Zimmer
- ohne Mitgefühl für das einsame Wesen, das sich unter den geliebten Menschen
befindet und trotzdem allein gelassen wird. Und behauptet immer noch, es hätte
ihm nicht geschadet. Ist es denn kein Schaden, sein eigen Fleisch und Blut mit
solch einer herzlosen Brutalität zurückzuweisen? Ist das nicht Schaden genug,
jedwedes Einfühlungsvermögen für die Schmerzen und die Einsamkeit eines so
kleinen hilflosen Wesens verloren zu haben? Ist es nicht Schaden genug, dass man
jemanden quälen kann, ohne überhaupt zu merken, dass man ihn quält?
Hier sind Bücher von Alice Miller, die die Auswirkungen der ganz normalen
Erziehung auf uns und unsere Kinder untersucht hat: