Dornröschen - wie es weiterging
|
|
~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.~.
Im Zauberwald
Heute morgen, als die Sonne mich wach geküßt hatte, machte ich mich auf, im
Schloßpark spazieren zu gehen. Das weiße Schloß leuchtete in der Sonne vor dem
blauen Himmel. Es war ein wunderschöner Anblick. Ich spazierte um den Weiher,
und auf der anderen Seite angekommen, da stand ich auf einmal im Wald. Wie im
Traum fühlte ich unter meinen Füßen einen weichen Teppich aus Tannennadeln, die
jedes Geräusch meiner Schritte verschluckten. Es war nur das Rauschen des
Springbrunnens, der im Wasser steht,
zu hören. Weiter und weiter lief ich in den Wald hinein, immer am Wasser
entlang. Ein anderes Rauschen wurde stärker und stärker, und auf einmal sah ich
ihn, den Bach, der in Kaskaden hüpfend in den Weiher mündet. Bald kam ich auch
an die Quelle, die verwunschene Quelle, bei der man beobachten kann, wie das
Wasser aus dem sandigen Boden sprudelt.
Ich kletterte ein Stück die Kaskaden herunter, die gleich neben der Quelle in
den Weiher sprudeln, und lauschte dem Rauschen des Wassers, spürte die Sonne in
meinem Gesicht und den Wind in meinen Haaren. Kein Mensch weit und breit, nur
die Sonne, das Wasser und ich. Irgendwann riß ich mich los und wanderte weiter.
Der Wald wurde wieder lichter, und ich kam an den verzauberten Bach, der
friedlich seines Weges murmelt, aber wehe, es trinkt ein Mann aus ihm. Der
verwandelt sich in eine reißende Bestie. So aber war ich allein, stand auf der
kleinen Brücke und beobachtete die Blätter, wie sie in den Wellen tanzten und
irgendwann in einem Strudel untergingen. Das Murmeln des Baches begleitete mich
auch dann noch eine Weile, als ich schon längst weiter gegangen war.
So langsam erreichte ich die ersten Häuser wieder, die etwas abseits vom See
stehen, aber ich blieb unten am Wasser, wo es einen Wunschbrunnen gibt, über
dessen Rand man solange immer und immer wieder im Kreis laufen muß, bis man
eins mit dem Brunnen geworden ist. nie darf man diesen Brunnen durch negative
Gedanken verunreinigen. Man darf nur Gutes und niemandem Schlechtes wünschen,
und es sind nur Gedanken an Schönheit und Liebe erlaubt, damit der Brunnen
seine Zauberkraft nicht verliert. Auch von diesem schönen Ort verabschiedete
ich mich und ging in mein schönes Schloß zurück.
Das Schloß
Nachdem ich nun hundert Jahre geschlafen hatte, kam auch endlich der
Märchenprinz und küßte mich wach. Was war das schön! Ich schwebte mit ihm im
siebten Himmel. Sieben Jahre lang! Leider fiel ich dann ziemlich unsanft auf
den Boden der Tatsachen zurück, als ich merkte, wie mein Traumprinz sich
langsam zu einem Alptraum entwickelte. Und so ließ er mich am Ende mit zwei
kleinen Kindern sitzen. Und ich lebte glücklich und zufrieden mit meinen beiden
Kindern bis . . . - nein, nicht bis ans Ende meiner Tage, sondern nur bis . . .
Eines schönen Abends, als ich die beiden Kleinen ins Bett gebracht hatte,
machte ich mich auf, mein Schloß zu erkunden, lebte ich mit den Kindern doch
nur in einem Teil davon.
Zuerst kam ich in den großen Festsaal, wo vor vielen, vielen Jahren mein
15. Geburtstag gefeiert werden sollte. Und wo mit großem Prunk und
großer Pracht meine Hochzeit gefeiert worden war. Damals lebten Mama und
Papa noch, aber jetzt sind sie auch nicht mehr da. Sie sind vor ein paar Jahren
auf tragische Weise bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
Weiter ging ich zur Küche, in die riesengroße Küche, wo für uns und für
das ganze Hausgesinde gekocht wurde. Blitzblank war alles geputzt, alles
glänzte und funkelte und war an seinem Platz. In den Kacheln konnte ich mich
sogar spiegeln. Hochachtung vor der Putzfrau, die das alles so schön in
Ordnung hielt! Die Tür zur Speisekammer war leider abgeschlossen, und die
Schlüssel dafür besaßen nur der Koch und die Köchin. Ich hatte mich ja nie so
ums Essen gekümmert. Das hatte Mama immer getan.
Lange, endlose Gänge mit vielen Zimmern wandelte ich entlang durch das
ganze Schloß. Alle Zimmer waren tiptop in Ordnung, als ob dort jeden Moment
jemand ins Bett steigen würde. Irgendwo tickte eine Uhr laut und gleichmäßig
ihren Takt. Da hinten raschelte auch etwas, und schon huschte eine kleine graue
Maus an mir
vorbei.
Auf einmal öffnete ich eine Türe, hinter der sich kein Zimmer, sondern eine
enge Wendeltreppe nach oben befand. Neugierig sah ich hinauf. Alles war dunkel.
Dennoch erkannte ich es wieder: es mußte das Zimmer der dreizehnten Fee
sein oben in dem Türmchen, das man draußen schon von weitem sehen kann.
Tauben fliegen da herum und nisten in den kleinen Nischen. Nun aber schliefen
die Tauben, alles war mucksmäuschenstill. Ich stieg im Dunkeln tastend die
schmale Treppe hinauf, drückte die Türklinke, und laut knarrend ging die Türe
auf.
Es war ein schöner Sommertag gewesen, und draußen war es noch hell. Und
so blendete mich das Tageslicht, als die Türe sich öffnete. Aber wie sah das
Zimmer aus?! Niemand war da. Alles war verstaubt und voller Spinnweben. Ich
mußte niesen und war in eine Riesenstaubwolke eingehüllt. Trotzdem erkannte ich
das Spinnrad an seinem alten Platz, und die Spindel lag auch noch daneben,
total verrostet.
Aber wo war die alte Frau geblieben? Keine Spur von ihr. Hatte sie auch
die hundert Jahre geschlafen? Oder war sie die einzige, die einfach gegangen
war? Aber wo war sie dann jetzt?
Bevor ich das Zimmer wieder verließ, sah ich von oben aus dem Fenster, wie die
Sonne glutrot am Himmel unterging. Ich schloß hinter mir die knarrende
Tür, tappte im Dunkeln die Treppe herunter, öffnete die Tür zum Gang und
merkte, wie dämmrig es jetzt war.
Schnell lief ich zurück zu den Kindern. Ich blickte sie an, wie sie friedlich
schliefen und wie im Schlafe ein Lächeln über ihre Lippen huschte, als hätte
ein Engel sie geküßt. Leise, leise, ganz sachte schloß ich die Tür wieder
hinter ihnen und machte mich diesmal auf den Weg nach unten.
Im Spielzimmer der Kinder suchte und fand ich noch eine Taschenlampe.
Bewaffnet mit dieser und einer guten Portion Neugier begab ich mich in die
große Eingangs- halle, die dieselbe achteckige Form wie der Festsaal hat. Links
und rechts von der Eingangstüre aus schwingen sich die Treppen mit den
wunderschönen Schnitzereien an den Geländern empor bis in die erste Etage. Sie
wirken so leicht und so fein und sind doch stark genug, die vielen Menschen zu
tragen, die bei großen Festen auf ihr hinauf strömen, um in den Festsaal und
den großen Speisesaal zu gelangen. Selbst Tante Emmi mit ihren hundert
Kilogramm Lebendgewicht haben sie immer zuverlässig nach oben getragen. Ich
stand und staunte, bis ich mich endlich losriß und auf die Türen unter der
Treppe gegenüber der Eingangstüre zu marschierte.
Die linke der drei Türen ließ sich leicht öffnen. Dahinter befand sich die
Abstellkammer, das Reich der Putzfrau, wo sie ihre Sachen verwahrte. Und auch
hier: alles tiptop, sauber wie ein Wohnzimmer. Ich bekam langsam eichte
Achtung vor dieser Frau, die hier alles so tadellos sauber und in Ordnung
hielt. Welch eine Arbeit mußte das sein in dem großen Schloß!
Leise verschloß ich wieder das Reich der Besen und Putzeimer. Die rechte Tür
ließ ich verschlossen, denn dahinter ging es zu den Räumen der Diener,
Dienstboten und der Putzfrau. Ich wollte sie alle schlafen lassen, da sie
morgen wieder einen anstrengenden Tag haben würden.
Die mittlere Türe ließ sich sofort öffnen. Ich wunderte mich, dass sie
nicht abgeschlossen war, führte sie doch die Treppe hinunter in den Keller. Ich
dachte an die Gefahren für die Kinder, wenn die Türe nicht verschlossen ist.
Nachdem ich sie geschlossen hatte, war es stockduster. Schnell knipste ich die
Taschenlampe an und tastete mich mit Hilfe des im Dunkeln tanzenden Lichtkegels
die Treppe hinunter.
Als erstes kam ich in den Weinkeller. Da hatte Papa bereits vor vielen Jahren
eine elektrische Leitung verlegen lassen, und so knipste ich das Licht an. Aha!
Das war es also, warum der Keller nicht abgeschlossen war! Und der Weinkeller
auch nicht! Was war mir vom Vermächtnis meines Vaters übrig geblieben?!?! Der
schöne Wein! Der gute Wein! All das, was Papa in Jahrzehnten in liebevoller
Kleinarbeit an edlen und kostbaren Weinen zusammengetragen hatte! Alles, was
er liebte! Alles weg! Aus- gesoffen von dieser Bande von Chattern - äh
Dienstboten natürlich, die für den Keller und die unteren Räume zuständig
waren! Gleich morgen würde ich den Weinmeister entlassen und mich in Zukunft
wohl etwas mehr um die unteren Räume kümmern müssen. Kinder erziehen ist eben
nicht die einzige Aufgabe einer Prinzessin.
Schweren Herzens ging ich weiter, fand aber hauptsächlich Gerümpel im
Schein meiner Taschenlampe, lauter alte Sachen, die man hier unten abgestellt
hatte, weil keiner sie mehr brauchte. Sogar eine Schatzkiste fand ich, aber sie
war leer und der Deckel morsch. Ich hatte Mühe, mich in den Gewölben nicht zu
verlaufen, und ab und zu raschelte es, und etwas huschte an mir vorbei.
Zu guter Letzt stand ich vor einer großen, schweren Eichentür. Sie war nur
angelehnt und ließ sich mit lautem Quietschen, das hier unten beängstigend
schallte, nur sehr schwer öffnen. Vorsichtig leuchtete ich mit meiner
Taschenlampe in den völlig verstaubten und vergessenen Raum. Fledermäuse
flatterten herum, und mir gruselte, als mich eine am Haar streifte.
Der Raum schien leer zu sein, aber dann entdeckte ich ganz am Ende eine
Erhöhung, und darauf lag etwas Weißes. Irgendwo im Schloß schlug eine Uhr
Mitternacht. Und was war das? Das Weiße bewegte sich. Es reckte sich und
streckte sich, gähnte laut und klapperte bei jeder Bewegung. Mit lief es
eiskalt den Rücken hinunter. Ich wollte schreien, weglaufen. Aber ich war wie
gelähmt. Ich konnte mich nicht rühren, und etwas hielt mich auch fest, so daß
ich nicht gehen konnte.
Das Weiße stand auf. Und kam auf mich zu. Es bestand aus lauter weißen Strichen
mit großen Zwischenräumen dazwischen. Und es trug einen funkelnden Säbel an
seiner Seite! "Onkel Ottokar!" schoß es mir durch den Kopf. Onkel Ottokar, der
Schreckliche, der so viele Morde auf dem Gewissen hatte, und der eines
Tages ganz plötzlich verschwunden war. Hier war er also all die Jahre gewesen!
Hier unten im Keller, verhungert und verdurstet bei den Ratten und
Fledermäusen!
"Dornröschen," dröhnte auf einmal eine gaaaaanz tiefe Stimme durch den Keller.
"Auf dich habe ich all die Jahre gewartet."
Den Schluß hatte ich schon fast nicht mehr vernommen, da ich vor lauter Schreck
in Ohnmacht fiel. Als mich am nächsten Morgen die Sonne wach küßte, lag ich
friedlich in meinem Bette. Ich wußte nicht mehr, wie ich dahin gekommen war.
Was mochte Ottokar, der Schreckliche, wohl von mir wollen, dass er jede Nacht
zur Geisterstunde aufstand, um auf mich zu warten?
Ottokar, der Schreckliche
War es nun ein Traum oder nicht? Um Mitternacht schlich ich mich wieder in
den Keller. Alles schlief. Der Vollmond schien.
So langsam hatte ich mich wieder gefangen und wagte es, Ottokar
gegenüberzutreten, ohne gleich in Ohnmacht zu fallen. Gerade als ich die
schwere halboffene Kellertür erreichte, schlug es Mitternacht. Ottokar saß
schon da und wartete auf mich.
Und er hatte viel zu erzählen aus seinem langen und aufregenden Leben, vor
allem von seinen ganzen Eroberungen vornehmlich des weiblichen Geschlechts,
von dem er meinte, er würde es sehr lieben. Und es war ihm anzumerken, wie
sehr es ihn verdroß, dass sein nur noch aus Knochen bestehender Körper ihm
dieses Vergnügen ein für alle mal verwehrte.
Von nun an schlich ich mich jede Nacht zu Ottokar in den Keller und lauschte
seinen Geschichten von Liebe und Abenteuer. Liebe? eigentlich waren es ja mehr
Verletzungen, was er da mit den armen Frauenherzen anrichtete, Verletzungen
von Gefühlen und immer wieder Grenzverletzungen. Die armen Frauen, die auf
ihn reingefallen waren, taten mir wahnsinnig leid, und ich konnte so langsam
verstehen, dass und warum ihn jemand hier unten so absichtlich vergessen hatte.
Eines Nachts, es war stockduster, kein Mond schien am Himmel, tastete ich mich
wieder leise durch das dunkle stille schlafende Haus in den Keller zu Ottokar.
Und da saß er, hatte mein Kommen wohl total vergessen, vor einem Bildschirm
wie von einem Fernseher oder Computer. und was war da zu sehen?!?!!! Mein
Badezimmer! Meine Badewanne! Und zwar so, dass man den besten Blick hat auf
denjenigen, der dort badet! Mich packte das Entsetzen! Und mir lief es eiskalt
den Rücken hinunter! Ich glaubte, meinen Augen kaum zu trauen! Da saß also
Ottokar und sah in meine Badewanne!
Wie versteinert blieb ich in der Tür stehen. Fassungslos. Ich starrte und
staunte. Ich konnte nicht begreifen, wie jemand so hemmungslos in meine
Intimsphäre einbrechen konnte. Es war nicht wahr! Aber - leider - es war doch
wahr.
Da wandte Ottokar sich auch schon um, erblickte mich und wurde so rot im
Gesicht, wie ein Skelett eben nur werden kann. Jetzt war er es, der mich
fassungslos anstarrte. Verbergen wäre zwecklos gewesen, ich hatte ja eh alles
gesehen.
"Dornröschen, du mußt verstehen", sagte er, wußte aber nicht weiter. Und ich?
Ich hatte auch - ehrlich gesagt - keine Lust zu verstehen, so verletzt und
wütend wie ich war. Ich schrie ihn an, wütete und schimpfte, knallte ihm
sämtliche Beleidigungen um die Ohren, die ich kannte, aber am liebsten hätte
ich ihn umgebracht, erwürgt .... Aber mach das mal mit einem Toten! Er war ja
schon tot.
Und dann setzt er noch einen oben drauf. Nicht nur er, sondern Millionen von
Männern hatten sich mein Badezimmer angeguckt, dank Internetanschluß. Vor
lauter Schmach und Schande brach ich mit einem Weinkrampf zusammen. So brutal
hatte ich mir das Wachgeküßtwerden denn nun doch nicht vorgestellt. Meine
ganze Welt brach zusammen in einem so winzigen Augenblick.
Meine ganze Jugend hatte ich verpennt für den Einen, den Märchenprinzen, der
mich mit all seiner Liebe wach küßt und aus dem Reich der Träume holt mit
einer wunderschönen Realität, die schöner ist als jeder Traum, für den ich
mich aufbewahren wollte, für den ich so lange geschlafen und meine Reinheit
bewahrt hatte. Und nun? Keinen Einen wird es jemals geben. Niemals mehr.
Millionen Menschen haben mich in meiner Nacktheit gesehen, sich am Anblick
meines Körpers geweidet und daran, dass ich mich unbeobachtet gefühlt hatte.
Was für ein Traumprinz könnte das noch sein, der sich das antut, all die
süffisanten Blicke der anderen Männer, die da sagen: "ja, schöne Frau, die du
da hast, ich habe sie auch schon gesehen. Weißt du Blödmann überhaupt, was sie
da am Bildschirm getrieben hat?"
Aus der Traum von der großen Liebe! Nie wieder! Nie mehr kann mich jemand
lieben. Welcher Mann kann es schon ertragen, dass Millionen von Männern seine
Frau gesehen haben?!?
Ich weinte und weinte und weinte, und zu meinen Füßen bildete sich ein großer
See aus all meinen Tränen. Auf einmal wurde es ein bißchen heller, und
Ottokars Gesicht spiegelte sich in dem See. Aber woher kam das Licht? Ich
blickte hoch und sah auf dem Bildschirm, dass das Licht im Badezimmer
angegangen war. Zu sehen war nur die leere Badewanne, aber man hörte ein
feines Plätschern, die WC-Spülung und das Rauschen des Wasserhahns. An den
tapsigen Schritten erkannte ich den Kleinen. Nie in meinem Leben bin je von
einer ohnmächtigeren Wut und größeren Hilflosigkeit erfüllt gewesen.
Ich raste nach oben ins Bad, suchte diese verdammte Kamera mit dem Sender und
fand sie auch sofort. Bis zur Besinnungslosigkeit trampelte ich darauf herum,
um sicher zu sein, dass sie restlos zerstört war. Und dann raste ich wieder
herunter zu Ottokar, der immer noch unbeweglich dasaß. In meiner grenzenlosen
Wut zerdepperte ich alles, was auch nur von weitem nach Technik aussah. Ich
fühlte eine unbändige Energie in mir., wie ich sie nie vorher gekannt hatte.
Ottokar guckte so fassungslos, wie ein Skelett nur fassungslos gucken kann.
"Das wollte ich nicht", stammelte er hilflos. Er hatte sich gar nichts dabei
gedacht. Er verehrte meine Jugend, meine Unschuld und meine Schönheit und
wollte einfach die anderen daran teilhaben lassen. Er meinte, es wäre ja alles
nicht so schlimm, weil ich ja gar nichts davon wüßte. Und jetzt war er völlig
erschüttert darüber, was er da eigentlich angerichtet hatte. Das wollte er
nicht.
Ich sah ihm an, dass er begriff. Und mein Wüten erschien mir auch langsam als
sinnlos. Was geschehen war, war geschehen und ließ sich durch nichts auf der
Welt wieder rückgängig machen. Wie hatte ich mich darum bemüht, nicht gesehen
zu werden! Und wieviel Energie hatte mich das gekostet! Immer nur war ich müde
und habe geschlafen, geschlafen, geschlafen. Und jetzt? Ich war voller Energie
und Tatendrang und wußte schon fast nicht mehr, wohin damit. Da fing ich an,
übermütig zu werden.
Wie wär's wohl, wenn ich aufhören würde, mich zu verstecken und statt dessen in
die Welt hinaus gehen würde? Jetzt haben mich eh alle gesehen, und ein Prinz
wird nicht mehr kommen. Brauche ich überhaupt einen?
Als erstes aber mußte ich lachen und konnte gar nicht mehr aufhören, als ich
mir dieses Chaos da unten im Keller anguckte und mittendrin Ottokar, der da
saß wie ein begossener Pudel. Er wußte gar nicht, wie ihm geschah, als ich ihn
mir schnappte und einen Freudentanz aufführte. Man hatte mich nackt gesehen,
und ich lebte noch. Es hatte keinen Sinn mehr, mich zu verstecken, weil mich
sowieso schon alle gesehen hatten. Ich war frei, frei ich selbst zu sein. Mein
Ruf war so restlos ruiniert, daß ich dadurch die Freiheit gewonnen hatte, ich
selbst zu sein, weil ich eh keine andere mehr sein konnte.
Ottokar klapperte mit seinen Knochen im Takt, als langsam das Licht durch den
Türspalt schien. Völlig aus der Puste setzte sich Ottokar auf seinen Stein,
legte sich hin und verfiel zusehends zu Staub, bis nichts mehr von ihm übrig
war. Und auch alles andere löste sich auf und verfiel zu Staub. Eine
Fledermaus flatterte hektisch in die dunkle Ecke. Alles war still, als ich aus
der Türe ging.
Ein blasser Lichtschein fiel die Kellertreppe herunter, als ich durch den
Vorraum ging oder besser stolperte. Ich stolperte nämlich über etwas. Es war
eine Kiste, die morsche Schatzkiste. Aber was war das? Sie war gar nicht mehr
morsch. Der Deckel war aus solidem schwarzen Holz, ebenso der Kasten selbst.
Die Ränder waren beschlagen mit einer goldenen Zierleiste. Ich öffnete dir
Truhe und sah, dass sie voller Schätze war. Rubine und Diamanten funkelten im
fahlen Lichte der Morgendämmerung. Ich nahm ein Diadem heraus und steckte es
mir in die Haare. Eine glänzende Kette legte ich mir um den Hals, und dann
stieg ich mit dem Kasten die Treppe hinauf.
Es war schon hellichter Tag. Die Sonne schien. Ich hörte die Kinder im Haus
herumlaufen. Sie suchten wohl mich schon. Da stürmten sie die Treppe herunter,
und mein Kleiner blieb mit offenem Mund vor stehen: " Mama, was bist du schön!"
Die Fee
Es geschah nun aber, dass ich eine Weile so vor mich hin lebte, mich um die
Kinder und das Schloß kümmerte. Immer wieder kamen auch Leute zu mir, um mich
um Rat zu fragen, wenn sie Probleme hatten. Ich freute mich, dass ich den
Menschen einen Dienst erweisen konnte, freute mich, wenn ich sah, dass es ihnen
besser ging, sie neuen Mut schöpften und freute mich über ihre dankbaren Augen.
So verging die Zeit, ich wähnte mich glücklich bis zu dem Tag, an dem ich
erkannte, wie erschöpft ich war vom vielen Geben und Für-andere-Dasein. Betrübt
erkannte ich, wie sehr mich der Kummer der anderen belastete und wie sehr ich
mich im Grunde meines Herzens nach einer Schulter zum Anlehnen (Ausweinen?)
sehnte. Also machte ich mich auf zum Wunschbrunnen im Zauberwald, drehte meine
Runden auf dem Brunnenrand. Ich wurde eins mit dem Brunnen und wünschte mir
jemanden, der mir einfach nur gut tat. Ich gab mir große Mühe, dabei an keinen
bestimmten Menschen zu denken, denn so viel hatte ich bereits begriffen: jede
Manipulation eine anderen Menschen bringt am ende nur Unglück, aber niemals
das, was ich mir eigentlich gewünscht habe.
Einige Tage lang passierte gar nichts, und ich hatte im Trubel meiner Tage das
Ganze auch schon längst vergessen. Es war später Abend, ein Freitag, der Tag
der Göttin Freia, und ich wollte mich nach getaner Arbeit endlich zur Ruhe
setzen und was lesen oder stricken. Da klingelte es an der Tür. Der Diener
führte eine schöne Fee zu mir. Sie nahm mich bei der Hand und wollte mich aus
dem Schloß führen. Ich ging mit ihr, verließ das Schloß aber nicht, ohne vorher
nochmal nach den selig und süß schlafenden Kindern zu gucken.
Wir traten hinaus in die Nacht. Es war ein milder Wintertag. Gespenstisch
reckten die Bäume ihre kahlen Äste in den schwarzen Himmel. Nie war die
Struktur der Bäume so klar wie im Winter.
Die Fee lief neben mir her die malerischen Sträßchen in unserem kleinen Ort,
die mir alle so bekannt und vertraut waren. Alles schlief, und es war so still
und friedlich. Wir gingen weiter und immer weiter, und die Gegend wurde mir
fremder und fremder. Noch nie im Leben war ich an diesen Orten und in diesen
Straßen gewesen. Ich wußte gar nicht, wie schön unser Ort hier war.
Auf einmal nahm ich im fahlen Lichte der Laternen eine Bewegung auf der Straße
wahr: eine runzlige Kröte voller Warzen hüpfte von einer Seite zur anderen.
Dann sah sie mich und blieb vor mir stehen. "Dornröschen", sagte sie. "Auf dich
habe ich hier gewartet. Ich bin die Urmutter allen Lebens und habe eine
Botschaft für dich." Ich bückte mich zu ihr hinunter. Sie flüsterte mir etwas
ins Ohr. Dann segnete sie mich, und schon war sie mit einem Satz in ihrem
Brunnen verschwunden.
Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Verdattert ging ich weiter, neben mir die
Fee. Sie schwebte so leicht und fein neben mir und führte mich durch die
unbekannte Gegend. An einigen Kreuzungen erkannte ich die Straßenschilder und
wußte einen Augenblick lang, wo wir waren, und schon waren wir wieder auf
unbekannten Wegen. Ich vertraute der Führung der Fee und fürchtete keinen
Augenblick lang, mich zu verlaufen.
Es war so wunder schön: die Stille, die Dunkelheit, die Einsamkeit und das
blasse Licht der Sterne und des Mondes.
Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass noch jemand bei uns ist. Ich konnte
niemanden sehen, aber ich spürte, dass noch jemand da war, jemand, der mich
einhüllte in eine Wolke aus unendlicher Zärtlichkeit. Es war wie ein Geschenk.
Mit einem unendlichen Glücksgefühl schwebte ich neben der Fee her die Wege
entlang. Ich spürte einen Hauch von einem Kuß im Nacken.
Zu dritt erreichten wir die kleine Kapelle, und die Fee erzählte mir, dass dort
früher auch geheiratet wurde. Jetzt war alles still, und die Kapelle war
abgeschlossen. Wir standen auf dem kleinen Platz mit Blick über den still und
friedlich schlafenden Ort. Andächtig lauschten wir der Stille und dem Lied der
alten Bäume, die uns so viel aus alten Zeiten zu erzählen hatten. Der Wind
strich sanft durch unsere Haare und die Äste der Bäume und vereinte so unser
aller Seelen. So wurden wir ein Wald, die Bäume und wir.
Nachdem wir eine Weile so gestanden hatten, verbeugten wir uns vor unseren
neuen Freunden, und auch mein unsichtbarer Begleiter verabschiedete sich von
mir. Die Fee und ich wanderten noch eine Weile durch die nächtliche Stille und
sogen den Frieden der Stadt in uns auf.
Zuletzt kamen wir an einen Spielplatz mit einer Himmelsschaukel. Ich setzte
mich auf die Schaukel und schaukelte, schaukelte, schaukelte . . . dem Himmel,
dem Mond und den Sternen entgegen. Ich wurde leichter und leichter, und meine
Seele bekam Flügel. Mit den Füßen konnte ich schon fast den Himmel berühren,
fast. Aber der Himmel wollte mich nicht - noch nicht.
Nach der Wut kommt der Schmerz
Als ich meinen Beinahe-HImmelflug beendet hatte, landete ich ziemlich
unsanft wieder auf dem Boden der Tatsachen - und die Fee war nicht mehr
da. Ziemlich verwirrt ging ich nach Hause ins Schloß zurück. Die Verwirrung
steigerte sich von Tag zu tag. Tag für Tag lief ich aus dem Schloß wanderte
durch die Wälder. Mit unbändiger Energie erklomm ich die steilsten Berge, genoß
die Aussicht über mein Land und irrte in den Wäldern umher - bergauf - bergab -
bergauf - bergab.
Die Fee traf ich nicht mehr und fand auch den Weg nicht mehr, den mir gezeigt
hatte. Meine Unruhe stieg, und auf einmal standen sie alle vor mir: die
enttäuschten Hoffnungen, all die vielen Fehlschläge und all die Menschen, die
hic im Laufe meines Lebens verloren hatte. Ein ungeheurer Schmerz bohrte sich
in mein Herz und breitete sich in meiner Brust und von da in meinem ganzen
Körper aus wie ein loderndes Feuer. Mir stockte fast der Atem.
Blind vor Schmerz irrte ich weiter durch die Wälder und wußte nicht mehr, wo
ich mich lassen sollte. Wo war ich? Ich wußte es nicht mehr. Überall nur
blickten mich die Fratzen meiner Vergangenheit an. Und dann dieser wahnsinnige
Schmerz und Kummer, die mich fast überwältigten!
Ausgebrannt und leer stand ich auf einmal vor der kleinen Kapelle. Froh, etwas
Bekanntes zu sehen, lief ich darauf zu. Und da sah ich ihn auch schon, den
singenden Baum, der sich wieder vor mir verbeugte und mich willkommen hieß. Ich
erwiderte die Begrüßung und lauschte seinem Lied, einem Lied von Wehmut und
Sehnsucht. Ich fühlte mich so einsam. Nur das Rauschen der Bäume im Wind.
So setzte ich mich zu Füßen des singenden Baumes, lehnte mich an seinen
mächtigen Stamm und lauschte. Sanft strich der Wind durch meine Haare und über
mein Gesicht, und der Baum sang leise sein Lied. Tiefer Frieden überkam mich.
Ich fühlte mich geborgen im Schutze des mächtigen Baumes, gestreichelt vom
Wind, und alles löste sich in mir. Ich weinte und weinte und weinte.
"Sie werden der Liebe begegnen",
sagte das Orakel. Und ich begegnete ihr.
Während die andere schon unterwegs waren, um sich zu treffen, hatte ich noch
dringende Regierungsgeschäfte zu erledigen. Aber endlich hatte auch ich das
Schloß verlassen und saß im Zug Richtung Süden. Die Sonne schien. Es war ein
herrlicher Tag.
Wie sehr liebte ich die Strecke am Rhein entlang! Majestätisch floß der
mächtige Strom mir entgegen. Weiße Schiffe glitten wie schwerelos auf ihm
dahin. Riesige Felsen, gekrönt von stolzen Burgen oder von dem, was davon übrig
geblieben war, säumten seine Ufer. Malerische Ortschaften wechselten ab mit
nackten Felsen und grünen Bäumen. Ich war fasziniert davon, wie auch noch auf
dem letzten Fleckchen Erde oben auf den Felsen in schwindelnder Höhe Wein
angebaut worden war. Von meiner Rheinseite aus war die Loreley so zart und
klein, dass sie in den Fluten kaum zu erkennen war. Die Sonne brach sich in den
Wellen, und der Rhein funkelte wie ein Diamant im Sonnenlicht. Es war so ein
schöner Anblick, dass es fast schmerzte. Glücklich und zufrieden versank ich in
all dieser Schönheit.
Stunden später weitete sich die Landschaft wieder, der Rhein war nur noch
selten zu sehen, und es dauerte endlos, bis ich ankam. Einmal noch mußte ich
über den Rhein, da, wo auch der Main in den Rhein mündet. Auf einmal gab es
unter mir, links von mir, rechts von mir nur noch Wasser, Wasser, Wasser, wohin
das Auge auch blickte.
Ganz sanft landete ich wieder auf der erde, auf dem Boden der "Tatsachen". Zwei
Paar Arme streckten sich mir voller Wiedersehensfreude entgegen. Der Rest des
Abends verlief dann mit solch sinnlichen Genüssen wie gutem Essen, gutem Wein,
Knuddeln und Lachen ohne Ende. Mein Lachen hatten sie schon vermißt.
Trotz allem ging auch dieser Abend zuende. Meine Freundin hatte mir das Bett
bereitet. Ich lag weich wie auf einer Wolke in Kissen aus Seide, umhüllt von
einer Decke aus reiner Seide. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.
Als alles still war im Haus, spürte ich einen leisen Hauch. Ich spürte, wie die
Flügel eines Engels mich mit zärtlicher Liebe bedeckten. Er hauchte mir einen
zarten Kuß auf die Wange. Glücklich und mit dem Gefühl unendlicher Geborgenheit
schlief ich ein.
Der nächste Tag war eine Fortsetzung des letzten Abends, an dessen Ende ich
gemeinsam mit einer anderen Freundin den Heimweg antrat. Schwesterlich teilten
wir den Proviant, den man uns auf die weite Reise mitgegeben hatte. Und als ob
das noch nicht genug gewesen wäre, versorgten uns auch noch unsere Mitreisenden
mit Wurst und Brot und Getränken. So schwelgten wir noch einmal so richtig nach
Herzenslust im Schlaraffenland, aßen, Tranken und genossen diese wundervolle
Landschaft am Rhein entlang. Von dieser Rheinseite aus war auch die Loreley gut
zu erkennen, wie sie auf ihrem Felsen im Wasser sitzt und sich die langen Haare
kämmt.
Irgendwann trennten sich unsere Wege, aber ich war noch lange nicht zuhause,
zurück im Schloß. Während ich versunken in die Schönheit der Landschaft vor
mich hin träumte, war auf einmal der Engel wieder da und hauchte mir einen
zarten Begrüßungskuß auf die Stirn. Erfüllt von großer Freude lauschte ich
seinen Worten. "Dornröschen", sagte er, "ich komme nun zum letzten Mal. Du
brauchst mich nun nicht mehr. Du kommst nun alleine weiter."
Er schenkte mir noch folgendes Lied:
There's a flame
burning in your heart.
I
t's the flame
of eternal love.
Go to your garden
full of flowers.
Look in that garden
rich of powers,
powers of love
from the Eternal above.
Bevor er ging, sagte er noch: "Vergiß eins nicht: du kannst dieses Glück und
diese Liebe mit anderen Menschen teilen, aber du kannst sie von keinem Menschen
bekommen, da sie ihren Ursprung in der Quelle allen Lebens haben."
"Und wie erkenne ich die anderen?" fragte ich.
"So, wie ich auch dich an deinen leuchtenden Augen erkenne", antwortete er,
"erkennt du die anderen an dem Strahlen und Leuchten ihrer Augen."
Mit diesen Worten und einem gehauchten Kuß auf meine Stirn entschwand er, wie
er gekommen war, im Nichts. Und er hatte tatsächlich recht: ich brauchte nur an
ihn und die überwältigende Schönheit zu denken, um mich wieder glücklich zu
fühlen.
Der Weg heim zum Schloß führte mich am Weiher entlang. Tiefschwarz und still
lag er in der Nacht nun vor mir. Die runden Laternen spiegelten sich wie lauter
kleine Vollmonde auf der glatten Oberfläche. Ab und zu unterbrach eine
flatternde Ente die Ruhe über dem See. Tiefer Frieden erfüllte mein Herz.
Hier ist eine weitere Auswahl von Grimms Märchen - diesmal im Original.
Besonders schön finde ich auch die Märchenbesprechungen von Eugen Drewermann,
der als katholischer Priester gegen die katholische Kriche "rebellierte" und
neben der theologischen auch eine tiefenpsychologische Ausbildung hat, auf
deren Basis er über die Bedeutung der Märchen für uns heute schreibt. Ich
selber besitze einen wunderschönen Aschenputtel-Band mit Widmung von ihm :)