Heimkehr
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Als sie mir sagten, dass wie schlecht es ihm gehen und er nicht mehr lange leben
würde, machte ich mich sofort auf den Weg, um bei ihm zu sein und seine Hand zu
halten. Ich hatte noch eine weite Reise vor mir, packte das Notwendigste und
war schon unterwegs.
Als ich im Zug saß mit meinem Kaffee und zur Ruhe gekommen war, da fiel mir
auf, dass ich gar nichts Schwarzes eingepackt hatte – nicht dass ich zu meinem
Besuch bei ihm etwas Schwarzes hätte anziehen wollen – nein, das auf keinen
Fall! Aber irgendwann würde ja auch die Beerdigung sein, und ich hatte nur
meine beiden wärmsten Pullover mitgenommen – und die waren weiß, so als ob ich
zu meiner Hochzeit fahren würde ...
Irgendwie hat das gleichmäßige Rattern des Zuges für mich immer wieder etwas
Meditatives. Und so „wußte“ ich auch ziemlich bald, dass ich mir keinen Streß
mehr machen mußte, dass ich ihn nicht mehr lebend antreffen würde. Mir schwante
auch, dass er noch nicht einmal mehr im Krankenhaus sein würde, wenn ich dort
ankäme. Also wartete ich auf ihn – worauf? Ja, dass er zu mir kommt und sich zu
mir setzen würde.
Und wie kam ich auf diese abstruse Idee? Einem Freund von mir starb sein Sohn.
Als er noch nichts davon wußte, hörte er ein Geräusch in der Küche und stand
auf um nachzusehen, weil er meinte, eins von den Kindern wäre dagewesen. Er sah
aber niemanden in der Küche und ging wieder schlafen. Am nächsten Tag erfuhr
er, dass der junge Mann, sein Sohn, vier Stunden vorher gestorben war. Als er
mir das erzählte, sagte ich zu ihm: es war eins deiner Kinder in der Küche.
Dein Sohn war dort, um sich von dir zu verabschieden.
Jahre später gab es den tragischen Unfall von Prinzessin Diana und Dodi. Dodi
starb noch um Mitternacht an der Unfallstelle. Und von Diana sagte ein Reporter
im Fernsehen, dass die Ärzte um ihr Leben gekämpft haben, aber so gegen vier Uhr
morgens „ihr Herz nicht mehr schlagen wollte“. Diese Formulierung habe ich nie
vergessen! Es waren auch wieder genau die vier Stunden nach seinem Tod, als
Diana gestorben ist. War Dodi bei ihr gewesen?
Also wartete ich auf ihn – und er kam. Zwischen Frankfurt und Aschaffenburg saß
er auf einmal mir gegenüber auf dem Platz, auf dem ich vorher gesessen hatte.
Frankfurt ist ein Sackbahnhof, und die Züge fahren dort rückwärts wieder
heraus, so dass ich den Platz auf die andere Seite wechselte, um wieder vorwärts
fahren zu können. Der Zug war in Frankfurt pünktlich gegen 16.16 Uhr abgefahren.
Wie geplant bin ich gegen 19.00 Uhr im Krankenhaus angekommen. Nach endlosem
Warten sagte man mir, dass er zwischen 12 und 13 Uhr gestorben sei und fragte,
ob ich ihn nochmal sehen wollte. Ich wunderte mich schon, dass er noch im
Krankenhaus war. Da ich mich gerne von ihm verabschieden wollte, sagte ich ja.
Wenig später kam der Arzt zurück, um mir zu eröffnen, dass er nicht mehr im
Krankenhaus sei.
Man gab mir noch einmal die Liste der Fremdenzimmer, die ich schonmal bekommen
hatte, als ich meinen Schatzi besucht hatte. Die alte Frau, bei der ich das
letzte Mal schon übernachtet hatte, und die ich so sehr mochte, hatte „mein“
Bett noch frei und freute sich auf mein Kommen.
Auf dem Weg zu ihr rief ich noch seine Mutter an, um ihr mein Beileid
auszudrücken und sie nach der Beerdigung zu fragen. Sie nannte mir den Termin
für übermorgen und für den nächsten Tag noch einen Termin zur Einsegnung, wo
man sich noch von ihm verabschieden konnte. Ich spürte schon, dass sie mich
nicht da haben wollte, und auf einmal fing zu an zu fragen, was wir denn
überhaupt für eine Beziehung gehabt hätten und dass das ja alles nichts
Richtiges gewesen sein konnte, weil wir ja nicht verheiratet waren und uns
wegen der großen Entfernung nur so selten gesehen hatten usw. Ich war sowas von
verdattert, ich wußte überhaupt nicht mehr, was ich dazu sagen sollte.
Die alte Frau tröstete mich, so gut sie konnte. Ich ging dann früh schlafen,
frühstückte den nächsten Morgen in Ruhe und glaubte, ich wäre in drei Stunden
am Ziel. Am Bahnhof erfuhr ich dann, dass ich mich geirrt hatte, dass ich x-mal
umsteigen mußte und fünf Stunden brauchen würde.
Es war eiskalt, und ich war überhaupt nicht darauf eingerichtet. Es war wieder
mild geworden, als ich das Haus verlassen hatte, und ich war auf Krankenhaus
eingerichtet, nicht auf diese Eiseskälte da draußen. Ich weinte und hatte das
Gefühl, meine Tränen würden zu Eis.
Die ganze endlose lange Fahrt über weinte ich und träumte ich vor mich hin. Ich
dachte an all die schönen Zeiten, die wir zusammen verbracht hatten, an all
das, was wir noch gemeinsam tun wollten, an meine Besuche im Krankenhaus und
die Wochen vorher, in denen er so gelitten hatte. Ich dachte an all den Spaß,
den wir zusammen hatten und wie sehr ich ihn vermissen würde.
Die Landschaft zog an mir vorbei – es war kalt – und die Fensterscheiben
beschlugen. Ab und an mußte ich in einem kahlen Bahnhof auf den Anschlußzug
warten. Es war kalt, und langsam fing es an zu schneien.
Gegen Mittag war der Zug rappelvoll mit Schulkindern – es war ja der letzte
Schultag vor den Weihnachtsferien. Auf den Bahnsteigen lag der Schnee bald
knietief, und die Kids hatten ihren Spaß an Schneeballschlachten auf dem
Bahnhof.
Es schneite und schneite. Es wurde einsamer und einsamer. Die Strecke verlief
nun noch eingleisig durch den Wald. Kein Haus, keine Straße weit und breit, nur
Wald und Schnee, Schnee, Schnee ... Langsam bekam ich Angst. Was wäre, wenn wir
hier mitten im Wald in der Einsamkeit in einer Schneewehe stecken bleiben
würden?
Aber – wie durch ein Wunder – erreichten wir den nächsten Bahnhof rechtzeitig,
bevor mein letzter Zug, den ich nehmen mußte, losfuhr. Losfuhr? Losfahren
sollte! Denn dieser Zug war in einer Schneewehe stecken geblieben, und auf dem
Bahnhof wartete man auf seine Ankunft. Er kam nicht.
Ich fragte den Stationsvorsteher, was ich denn nun tun könnte, um rechtzeitig
am Friedhof zu sein, wie schnell ich denn mit einem Taxi da wäre. Auf die
letzte Frage meinte er nur ganz lakonisch, das käme ganz darauf an, ob wir in
einer Schneewehe stecken bleiben würden oder nicht. Aber trotz allem bat er
mich in sein Büro – dass ich erstmal im Warmen wäre – und telefonierte hinter
dem Verbleib des vermißten Zuges hinterher. Vergeblich.
Also wurde ich wieder hinaus komplimentiert und wartete darauf, dass der Zug
doch noch käme. Zu spät konnte er ja ruhig sein – dann hätte ich immer noch
reichlich Zeit, um zum Friedhof zu laufen. Aber ausfallen durfte er halt nicht,
eine Stunde später wäre es zu spät, und ich würde meinen Schatzi nie wieder
sehen können. Wenigstens einmal noch wollte ich ihn sehen und Abschied von ihm
nehmen – egal, ob seine Mutter dagegen war oder nicht. Ich wollte ihn nochmal
sehen.
Fünf Minuten vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges hörte ich eine Durchsage,
daß ein Zug zu meinem Bestimmungsort eingesetzt würde und er planmäßig abfahren
sollte. Wie freute ich mich! Doch nicht allzu lange! Aber zunächst einmal saß
ich im Zug, im Warmen, fand in meinem Rucksack noch ein zweites Paar Strümpfe,
das ich mir über die ersten noch anzog, und glaubte, es geschafft zu haben.
Weit gefehlt! Der Zug fuhr nicht. Er war schon fünf Minuten über die zeit, zehn
Minuten, zwanzig Minuten ... und dann kam noch eine Durchsage: wegen einer
Weichenstörung unbekannte Verspätung .... Ich war ja so verzweifelt! Und so
wütend! Sie hatte es also wirklich geschafft, dass ich ihn nicht mehr sehen
würde – nie wieder! Noch nicht mal mehr Abschied nehmen konnte ich von ihm!
Während ich noch so vor mich hin kochte, setzte der Zug sich langsam in
Bewegung. Es hatte nur noch weitere fünf Minuten gedauert ....
Eine halbe Stunde vor dem Termin der Einsegnung kam ich endlich an. Zum
Friedhof war es ja nicht weit. Ich stapfte durch den hohen Schnee und kam kaum
vorwärts. Bis zu den Knien sank ich immer wieder ein. Es schneite und schneite
.... Als ich endlich am Friedhof ankam, war ich voller Schnee, hatte Eis in
meinen Haaren.
Trotz allem war ich die erste. Seine Eltern erkannte ich sofort, obwohl ich sie
nie vorher gesehen hatte. Ich wußte gar nicht, wie ich mich verhalten sollte –
Beileid wünschen war klar – aber sonst? Wir kannten uns ja gar nicht. Wollten
sie lieber ohne mich sein? Oder gehörte ich dazu? Außer den Eltern waren noch
andere Verwandte da, sein Lieblingsneffe und ein älteres Ehepaar – Onkel und
Tante vielleicht?
Ich wartete erst einen Augenblick alleine, dann ging ich zu ihnen und erfuhr
dort, dass mein Schatzi noch im Stau steckte. Eine Schneewehe versperrte die
Autobahn. Der Pastor kam auch extra etwas später, weil er schon darüber
informiert worden war.
Endlich kamen sie und brachten den Sarg in einen kleinen Raum neben der
eigentlichen Kapelle. Dort sollte die Einsegnung sein und am nächsten Tag die
Beerdigung. Der Mensch vom Beerdigungsinstitut vergewisserte sich nochmal, daß
der Sarg zu bleiben sollte. Ganz entgeistert blickte ich ihn an und sagte
fassungslos und ganz entgeistert, dass ich ihn nochmal sehen wollte. Und bevor
noch seine Mutter etwas sagen konnte, waren die Herren in dem Raum
verschwunden.
Nach einer kleinen Weile wurden wir dann herein gebeten. Seine Mutter stürzte
sich gleich weinend auf ihren Sohn. Ich sah ihn nur an. Ein unglaublicher
Friede ging von ihm aus, der mich bis mitten ins Herz berührte. Er sah kein
bißchen mehr krank aus, sein Gesicht war wieder viel voller als zwei Tage
vorher, als ich ihn das letzte Mal besucht hatte, es war, als wenn alles, was
ihm das Leben schwer gemacht hatte, von ihm abgefallen war. Er war vollkommen
verwandelt, auch nicht so, wie vor seiner Krankheit. Und ich wußte auf einmal,
daß das Leben mit dem Tod nicht zuende ist. Ich spürte, dass er da war, wenn
auch nicht mehr in seinem Körper.
Ich hatte noch nie vorher einen Toten gesehen. Auf Zeichnungen von Toten waren
mir immer die merkwürdigen Hände aufgefallen, und auch seine Hände sahen jetzt
so aus, es waren nicht mehr die Hände, die ich kannte. Aber sie waren auch
nicht so kalt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich gab ihm noch einen
Abschiedskuß auf die Wange.
Was der Pastor sagte, habe ich nicht richtig gehört. Ich sah ihn nur an, meinen
Schatzi. Nach allem, was der Arzt mir gesagt hatte, dass ich ihn nicht mehr
ansehen sollte, müssen es wahre Künstler gewesen sein, die ihn so in den Sarg
gelegt hatten. Ich bedauerte, dass ich nicht malen konnte, ich hätte das Bild so
gerne festgehalten: es war einfach wunderschön, dieses Bild des Friedens und
die roten Rosen, die sie ihm mitgegeben hatten. Nichts anderes hätte ich ihm
mitgeben wollen.
Als die kleine Feier zuende war, sagte seine Mutter zu mir, sie würde jetzt mit
mir zu einer Bekannten von ihr fahren, wo ich ein Zimmer bekommen würde, und
dann würde sie mit mir in die Wohnung fahren, dass ich meine Sachen holen
könnte, die von mir noch da waren. Ich war platt! Damit hätte ich nie gerechnet.
In der kleinen Pension erhielt ich ein schönes Doppelzimmer für mich alleine.
Außer mir waren keine anderen Gäste da. Die Frau nannte mir den Preis für die
Übernachtung, und ich nickte, der Preis war in Ordnung. Zu meinem riesengroßen
Erstaunen hörte ich auf einmal seine Mutter sagen, sie würde das Zimmer
bezahlen. Damit hätte ich ja nie gerechnet!
Seine Wohnung war schon gar nicht mehr seine Wohnung. Seine Mutter hatte schon
ordentlich aufgeräumt, es roch noch nicht mal mehr nach ihm dort.
Der Neffe fand das Bild, dass ich mal gemalt hatte. Es gefiel meinem Schatzi so
gut, dass ich es ihm geschenkt hatte, aber das habe ich dann doch wieder
mitgenommen. Außerdem habe ich noch meine ganzen Briefe und Postkarten
gefunden, die ich ihm geschrieben hatte, noch ein paar Fotos von uns beiden –
und mehr war ja nicht da. Zu guter Letzt gab seine Mutter mir für die
Beerdigung am nächsten Tag noch eine schwarze Jacke von ihm, da ich ja gar
nichts Schwarzes eingepackt hatte.
Wieder in meinem Zimmer in der Pension drehte ich erstmal alle Heizungen auf.
Es war eiskalt, und ich bibberte. Ich setzte mich neben die Heizung und las
meine ganzen Briefe. Wie oft hatte ich ihm geschrieben ich vermisse dich, ich
freue mich, dich bald zu sehen, ich vermisse dich .... Und wie sehr würde ich
ihn jetzt und in alle Ewigkeit vermissen. Ich wußte gar nicht mehr, wie oft ich
ihm mal einfach so eine Karte geschrieben hatte – einfach so, nur um ihm zu
sagen, wie gern ich ihn habe und wie sehr ich ihn vermisse. Es war so
schrecklich, das jetzt alles zu lesen!
Ich bin dann ziemlich früh ins Bett gegangen. Auf meinem Kissen lag ein Bonbon,
und auf dem Nachttisch neben jedem Bett lag passend zu Weihnachten ein kleiner
Stern mit einem Bibelspruch der Weihnachtszeit. Auf meinem Stern stand: siehe,
dein König kommt zu dir. Und genau das war es! Die Verwandlung, die statt
gefunden hatte. Er hatte etwas Königliches an sich in seinem Frieden, in dem er
da lag mit den roten Rosen auf der weißen Decke.
Und da fiel mir auch wieder ein, wie er mal auf mich geschimpft hatte, ich wäre
ja so hochnäsig und eingebildet, ich würde mich aufführen, wie eine Königin,
und er wäre nicht mein Diener. Ich hatte aber ja gar nichts gemacht und auch
gar nichts verlangt von ihm. Und so antwortete ich ihm damals ganz ruhig und
cool: der adäquate Partner für eine Königin wäre ja auch kein Diener sondern
ein König.
Und damit war damals die Sache für mich erstmal erledigt. Für ihn damals aber
nicht. Für ihn gab es nur herrschen oder beherrscht werden – und beides gefiel
ihm nicht – zu Recht, wie ich finde. Meine Ansicht damals war, dass die Partner
sich auf derselben Ebene begegnen sollten, am besten jeder dem anderen als
König in seinem eigenen Reich – bildlich ausgedrückt.
Und jetzt war er also ein König geworden – mein König? Und nun ging es mir
nicht mehr aus dem Kopf: Tochteher Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem,
siehe, dein König, kommt zu dir.
Wie verabredet weckte die gute Frau mich am nächsten Morgen, machte mir
Frühstück, gab mir Proviant mit für die Reise, ließ mich mit der Bahn
telefonieren, damit ich auch heil wieder nach Hause käme. Da ich ja nun noch
Geld übrig hatte, das ich für die Zimmer nicht gebraucht hatte, mußte ich auch
nicht mit leeren Händen am Grab stehen, sondern konnte noch ein paar Blumen im
Blumenladen nebenan bestellen. Die Schleife mußte ich wohl mit der Hand
beschriften, weil es schon viel zu spät war – aber das war mir auch lieber so.
Als ich alles erledigt hatte, habe ich noch eine runde durch den kleinen Ort
gedreht, war an all den Orten, wo wir gemeinsam gewesen waren, bin all die Wege
gegangen, die wir gemeinsam gegangen waren. Die Sonne schien, es war ein
wunderbarer Tag, die Luft so klar und alles voller Schnee – einfach wunderschön.
Dann entdeckte ich, dass die Türe der Kapelle zu dem kleinen Raum offenstand.
Außer meinem Schatzi war niemand da. Ich ging zu ihm hin und genoß es, ein
letztes Mal noch bei ihm zu sein. Ich war so traurig und fühlte mich so
alleine, weil ich außer ihm ja niemanden hier kannte. Ich hatte das Gefühl, daß
er da war und mich in dem Arm nahm und tröstete.
Schon auf der Zugfahrt hatte ich Angst davor, dass ich auf der Beerdigung lachen
müßte. Es kam die Zeit, da sie ihn abholten und in die Kapelle brachten, wo es
eisig kalt war. Ich ging hinter ihm her und setzte mich ziemlich weit nach
hinten. Die Beerdigung selbst war total daneben. Der Pastor wußte nichts von
ihm – seine Mutter wollte ja wohl auch nicht, dass man über ihn redete – aber
die Predigt war einfach unmöglich, Fazit: mein Schatzi war ein Versager, mit
schönen Worten ausgedrückt. Und singen konnte der Pastor auch nicht! Die
schönen Lieder, die seine Eltern ausgesucht hatten, hat er alle verhunzt. Es
war einfach schrecklich, wenn nicht, ja, wenn nicht ....
Irgendwie hatte ich das Gefühl, mein Schatzi würde lauter Blödsinn machen und
mich ständig zum Lachen bringen. Er kam immer wieder zu mir, setzte sich neben
mich, ging wieder zu jemand anderem und kam zurück. Es war so grauenhaft, weil
ich so lachen mußte und ja nun alles machen konnte, nur eins nicht: laut
losprusten. Zum Glück war es so saukalt, dass ich mich in „meiner“ viel zu
großen Jacke verstecken und vor Kälte zittern konnte. Ich dachte nur: was
anderes als Blödsinn könnte man ja nun wirklich nicht machen bei dieser
fürchterlichen Predigt von der Bekehrung des Saulus zum Paulus – was das mit
meinem Schatzi zu tun haben sollte?! – Es war wirklich total daneben! Also was
anderes wäre mir an seiner Stelle wohl auch nicht eingefallen! Und der Pastor
redete und redete und redete ....
Aber irgendwann ist halt auch die längste und langweiligste Predigt zuende.
Fortsetzung folgte am Grab? Ich hörte schon nicht mehr zu, hielt mich ein wenig
im Hintergrund, war ja die Fremde da. Und dann war ich an der Reihe. Zu meinem
großen Erstaunen gab es keine kleinen Blumensträußchen dort wie bei uns. Die
Blumen, die wir ins Grab geworfen haben, waren keine Beerdigungsblumen – es
waren Blumen, wie Blumenkinder sie bei Hochzeiten streuen.
Der Familie, die jetzt vollständig da war, drückte ich nochmal wortlos die
Hand. Ich wußte nicht mehr, was ich noch sagen sollte. Vor der Kapelle gab ich
ihnen die Jacke zurück, bedankte mich nochmal und lief dann zum Grab zurück.
Ich wollte noch ein Foto machen, bevor sie das Grab zumachen würden. Irgendwie
fühlte ich mich, als wenn ich zu einem Rendez-vous gehen würde, das letzte, was
ich mit ihm noch hatte ...
Als ich ihn am Tag vorher nochmal gesehen hatte, da hatte ich das Gefühl, es
war richtig so, wie es war. Und jetzt sah ich ihn vor mir, wie er da lag und
empfand bei dem Gedanken, dass er von nun an in der Erde liegen würde eher ein
Gefühl von Geborgenheit als alles andere. Mutter Erde nahm in wieder in sich
auf. Von Erde bist du genommen, und zu Erde sollst du wieder werden.
Bald kamen auch die Totengräber, und gemeinsam schaufelten wir das Grab zu. Es
war das letzte, was ich für ihn noch tun konnte – und für mich in dem Falle
auch. Die Sonne schien, und es war eisig kalt. Durch das Schaufeln wurde mir
wenigstens wieder etwas wärmer. Die Erde war feucht gewesen und zum Teil schon
wieder gefroren, so dass sie erstmal los gehackt werden mußte.
Als das Grab fertig war, holte ich meine Blumen und legte sie selber auf das
Grab. Die Zeit reichte noch für ein letztes Foto, und dann mußte ich auch schon
wieder zum Bahnhof. So langsam fing es wieder an zu schneien. Die Flocken
tanzten, während ich den Friedhof verließ und den alten vertrauten Weg ein
letztes Mal zum Bahnhof ging.
Mein Schatzi liebte Filme so sehr, und die Kinder, denen ich die ganze
Geschichte erzählt habe, meinten, das Ganze sei filmreif gewesen, man solle
doch einen Film daraus machen. Und so verneige ich mich vor dir, mein Schatzi,
es war ein Abgang von der Bühne des Lebens, der Deiner würdig gewesen ist.
Alles Liebe von Sabine
Vertreibung
Ich war gesandt, den Menschen das Licht und die Liebe zu bringen – aber sie
blieben lieber im Dunkeln und wollten mich davon überzeugen, dass Liebe keine
Realität ist.
Ich war gesandt, den Menschen die Freude und das Lachen zu bringen – aber ich
war ihnen zu laut, und sie muffelten lieber.
Ich war gesandt, den Menschen Wege aus ihren Krankheiten zu zeigen – aber sie
wollten krank bleiben und jammerten lieber.
Ich war gesandt, den Menschen aus einer anderen Welt zu erzählen, der Welt des
Lichts und der Liebe – aber sie wollten mich davon überzeugen, dass es diese
Welt nicht gebe und dass ich ein unrealistischer Phantast sei.
Ich war Hagazussa, die Hexe, die Zaunreiterin, die, die auf der Grenze lebt,
die, die in zwei Welten lebt, der sichtbaren und der unsichtbaren. Ich war
Hagazussa, die mit einem Bein in dieser und mit dem anderen in der jenseitigen
Realität lebt.
Und dann kamst Du, mein Schatz, der Hexer, der auf der Grenze lebte mit einem
Bein in dieser und mit dem anderen in der jenseitigen Realität. Du warfst mir
vor, ich sei eine Königin und du wärst nicht mein Diener. Genau das hatte ich
aber auch nie verlangt von Dir.
Nun bist Du tot und mit beiden Beinen in der anderen Realität. Du gehst einen
Schritt vor. Du bist ein König und stehst nun neben mir, neben Deiner Königin.
Und ich? Ich gehe auf Seite. Ich freue mich, dass Du an meiner Seite bist und
stehe nun mit beiden Beinen draußen – hier – hier in dieser Wirklichkeit.
Du nimmst meine Hand. Du stehst jenseits der Grenze, und ich stehe diesseits
der Grenze. Und so gehen wir Hand in Hand, und Du bist nun meine einzige
Verbindung in die jenseitige Welt des Lichts und der Liebe.
Aber so kann ich nicht handeln. Ich weiß, dass ich Deine Hand loslassen muß, daß
ich auf eigenen Füßen stehen muß. Ängstlich lasse ich los, nicht wissend, was
nun auf mich zu kommt in dieser kalten und mir so fremden Welt. Ich wende mich
dir zu. Du wendest Dich mir zu. Ich verbeuge mich vor dir und danke Dir für
diesen Tanz. Du verbeugst Dich vor mir und dankst mir für diesen Tanz.
Liebevoll verabschieden wir uns voneinander.
Schweren Herzens wende ich mich ab von Dir und wende mich dieser Welt hier zu.
Ich gehe einen Schritt weg von Dir und von allem. Nie im Leben habe ich mich
verlassener gefühlt als in diesem Augenblick, in dem ich mutterseelenallein in
dieser Welt hier stand und keine Verbindung mehr zur jenseitigen, zu meiner
Heimat, meinem Zuhause, hatte. Habe ich das jetzt gebraucht, um mich einmal so
zu fühlen wie all diese Menschen, die nichts von mir wissen wollten? Wie all
diese Menschen, die den Kontakt zu dieser anderen Welt, zu ihrer, zu unser
aller Heimat, verloren haben?
Aber was geschieht nun? Ich fühle, dass ich Dich und meine Heimat in meinem
Rücken habe, dass Ihr hinter mir steht und mich wärmt. Ich weiß auf einmal, daß
ich jederzeit zu euch kommen kann, so wie es geschrieben stand: Begegnung
findet an der Grenze statt. Ich weiß, dass Ihr mich nie verlaßt und mich immer
begleitet. Ich bin nicht allein. Du bist da – und all die anderen auch. Ich
fühle Eure Nähe und Wärme, ich fühle mich geborgen in Eurem Licht und Eurer
Liebe - und gehe los.
Abschied
Während ich so vor mich hin ging in dieser Welt der Kälte und der rationalen
Lieblosigkeit, zu der ich nun voll und ganz gehören sollte, fielen mir auch
wieder die Worte des Pfarrers ein, die er bei der Verabschiedung am offenen
Sarg gesprochen hatte, die Worte von Verzeihen, die so endgültig klangen. Er
meinte, es wäre jetzt die Zeit, dem Toten noch einmal zu sagen, was man auf dem
Herzen hätte. Ich dachte so bei mir, dass ich hoffentlich alles wieder gut
gemacht hätte, was ich ihm angetan hatte aus Unwissenheit, aus Unachtsamkeit
oder welchen Gründen auch immer. Ich dachte aber auch, dass er ja noch da ist
und ich ihm jederzeit mitteilen könnte, was mir noch einfällt, ihn jederzeit
noch um Verzeihung bitten könnte, wenn mir etwas klar wird, was mir jetzt noch
nicht klar war, und ich wußte, er würde mich hören. Ich wußte, es wäre nie zu
spät, weil er niemals aufhören würde zu existieren und ich ihn immer und immer
erreichen könnte.
Aber was dann geschah, damit hatte ich im Träume nicht gerechnet! Nachdem ich
nun so eine Weile gegangen war, stand er auf einmal wieder vor mir –
unsichtbar, aber ich wußte, er war da. Und er sprach zu mir – unhörbar – aber
ich konnte es verstehen. Er war es, der vor mir stand und mich um Verzeihung
bat für das, womit er mich verletzt hatte und was ihm zu Lebzeiten nicht klar
war, dass es mich verletzen würde. Ich hatte ihm aber längst verziehen, es war
alles nicht mehr wichtig gewesen.
Und so lebte ich in Frieden mit ihm, mit mir, mit der Welt. Es war alles in
Ordnung, bis er eines Tages wieder vor mir stand. Er bat mich, mit seiner
Mutter zu sprechen. ich sollte ihr sagen, sie möchte ihn doch bitte endlich
gehen lassen.
Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte, überlegte hin und her und kam zu dem
Schluß, dass es nicht ging, dass es unmöglich war, mit ihr zu sprechen.
Einerseits fand ich es als anmaßend, ihr etwas von ihrem Sohn zu sagen. Ich
vermutete, dass sie sich von mir verhöhnt fühlte, wenn ich sagte, ich hätte mit
ihrem Sohn gesprochen, dass sie mich für verrückt erklären würde und ich ihr im
Endeffekt nur noch weiteren unnötigen Schmerz zufügen würde. Ihr Sohn war tot,
und so war es unmöglich, dass noch irgend jemand mit ihm sprechen könnte. Aber
ich hatte mit ihm gesprochen, hatte die ganze Zeit über den Kontakt zu ihm nie
verloren. Aber wer würde mir glauben? Nein, es war unmöglich, mit einer Bitte
meines Schatzis zu seiner Mutter zu gehen. Nachdem mir dies vollkommen klar
war, wandte ich mich an ihn, um es ihm mitzuteilen. Wortlos, aber es kam wohl
an.
Wenige Tage später fiel mit ein Buch in die Hände mit dem Titel: Die Seele ins
Licht geleiten. Ich wußte bereits, dass man die Seele der Toten gehen lassen
muß. Da ich ja die ganze Zeit über Kontakt zu ihm hatte, fürchtete ich schon,
daß auch ich damit gemeint war und auch diejenige war, die ihn nicht gehen ließ.
Das Buch bestätigte mir vieles, was ich schon wußte, enthielt auch viel
Hilfreiches und am Ende einige Meditationen der Liebe, u.a. um den anderen
gehen lassen zu können. Schon während ich dies las, saß auf einmal meine
geliebte Oma vor mir. Sie war wesentlich sichtbarer als mein Freund, trug ein
rot geblümtes weißes Kleid und war eine junge Frau. Sie ähnelte den uralten
vergilbten Fotos von ihr, auf denen sie als junge Frau abgebildet war, aber
jetzt saß sie in Farbe vor mir, ein wenig durchsichtig auch sie, aber ganz real
und kein wenig alt und vergilbt. Beim Lesen entschied ich mich, diese
Meditation in einer ruhigen Stunde durchzuführen, und meine Oma verschwand auch
wieder.
An einem schönen sonnigen Morgen, es war Fronleichnam, empfand ich es als
richtigen Augenblick, diese Meditation durchzuführen und tat es auch. Meine Oma
war da und saß mir gegenüber. Sie tat nichts, sie war einfach da. Und mein
Freund war sofort weg, so als wenn er schon lange darauf gewartet hätte,
endlich gehen zu können. Es war alles sehr friedlich und erfüllt von einer
unglaublichen Richtigkeit, durch die auch ich selber mich befreit gefühlt
hatte. Obwohl ich ihn vermißte, ging es mir gut, weil es sich alles so richtig
und in der Ordnung anfühlte. Noch tagelang kam meine Oma vorbei, so, als wenn
sie nach dem Rechten sehen wollte, als wenn sie sich vergewissern wollte, daß
alles okay ist mit mir. Sie sagte nie ein Wort, sie war immer nur einfach da
und war dann gleich wieder weg. Ich fühlte mich durch das alles sehr getröstet
und aufgehoben. Ich sah, dass es gut war.
Fazit
Nie vorher in meinem Leben ist es mir so bewußt gewesen, dass es absolut keine
Möglichkeit gibt, vor sich selbst und seinen Problemen zu fliehen – ja, selbst
der Tod ist keine „Rettung“ davor! Nie vorher in meinem Leben war es mir so
klar, dass wir uns selbst und unsere Probleme selbst mit ins Grab nehmen! Wohl
dem, der es noch im Leben geschafft hat, so viel wie möglich in Ordnung zu
bringen oder wenigstens jemanden zu finden, der ihn noch nach dem Tode
wahrnimmt und helfen kann, die ungelösten Dinge in Ordnung zu bringen. Wohl
dem, der weiß, dass der Tod nicht das Ende ist sondern „nur“ ein Übergang in
eine andere Daseinsform, einer Daseinsform, die uns zwar mehr Bewußtheit oder
Bewußtsein bringt aber uns jeglicher Handlungsmöglichkeiten beraubt. Wohl dem,
der auch nach seinem Tode noch die Chance hat, um Verzeihung zu bitten und
gehört zu werden!
Es gibt nur eine Botschaft aus dem Jenseits, aus der „anderen“ Welt, aus der
Welt, die unser aller Heimat ist, von der wir alle kommen, und zu der wir alle
wieder zurück kehren, und diese Botschaft lautet: Liebe, Liebe und nochmal
Liebe, Verzeihen und Wiedergutmachen. Nur wer glaubt, dass mit dem Tode alles
zuende ist, kann sich in diesem Leben verantwortungslos gemäß dem Motto: „Nach
mir die Sintflut!“ verhalten, der nicht weiß, dass er mit all seinen Taten und
Unterlassungen noch nach seinem Tode konfrontiert wird und dann absolut nichts
mehr tun kann, um irgend etwas in Ordnung zu bringen.
Die Botschaft aus dem Jenseits lautet immer wieder: „Es gibt nur eine Realität,
und das ist die Liebe.“
Elisabeth Kübler-Ross ist
DIE
Autorin zum Themea Sterben, Sterbeforschung, Sterbebegleitung etc. Der letzte
Satz des ersten Buches, das ich je von ihr gelesen habe (Titel weiß ich nicht
mehr), um mich zu vergewissern, ob ich nun verrückt geworden bin oder nicht,
lautete genau so, wie ich es am Sarg empfunden hatte: "Das Leben ist mit dem
Tod nicht zuende."
Hier nun einige ihrer wirklich lesenswerten und hilfreichen Bücher: