Eine Reise vom Siebten Himmel auf die Erde
|
|
Ich bin Leon, und ich wohne im Siebten Himmel. Leon bedeutet Löwe, und das ist
bei Euch auf der Erde der König der Tiere. Von hinten nach vorn gelesen ist
mein Name Noel, und das ist französisch und bedeutet auf deutsch: Weihnachten.
Ich bin Leon, und ich wohne im siebten Himmel, dem Himmel der Glückseligkeit.
Ich bin zuständig für das Glück der Menschen. Und ich verstehe sie nicht, die
Menschen. Ich verstehe nicht, warum sie nicht aus ihren Fehlern lernen, warum
sie nicht begreifen, dass sie nicht glücklich werden können, wenn sie so
weitermachen. Für mich hier sieht es so einfach aus: mit der Lieblosigkeit auf
der Erde werden die Menschen nicht glücklich, und sie leiden unter ihrem
Unglück. Also wäre es doch die einfachste Lösung, es mal mit einem
liebevolleren Verhalten zu versuchen. Bücher und Weisheitslehrer, die genau das
vorgeschlagen haben, gibt es doch genug auf der Erde!
Ich bin Leon, und ich bin voller Liebe und Güte. Der Kontakt zu mir bringt
Frieden und innere Ruhe, Freude und heitere Gelöstheit.
Ich bin Leon, und ich begreife es nicht.
Ich bin Leon, und ich beschließe, auf die Erde zu gehen und ein Leben unter
ganz realen Erdenbedingungen dort zu leben. Das heißt: ich gehe durch dasselbe
Vergessen wie jeder Mensch bei seiner Geburt. Ich vergesse meine himmlische
Herkunft und bin einfach ein ganz normaler Mensch. Ich suche mir einfach eine
ganz normale Familie und beginne ein ganz normales Leben auf der Erde.
Ich bin Leon, und ich wünsche mir zu verstehen.
Mein irdisches Leben
Ich wurde geboren als Kind einer ganz normalen Familie. Mein Vater war
Baggerfahrer, meine Mutter eine gute Hausfrau und Mutter, und eine Schwester
war auch schon da. Alle freuten sich über die Geburt des heiß ersehnten kleinen
Jungen.
Meine Mutter war eine gute Mutter, und sie wollte es gut und richtig machen. Um
in Ruhe ihren Haushalt zu machen, gab sie mich im Kinderwagen der großen
Schwester mit nach draußen in den Garten. Doch die Fünfjährige vergaß mich
schnell über'm Spielen. Ich war ein liebes Kind, und ich brüllte nicht.
Fasziniert betrachtete ich aus meinem Kinderwagen heraus die Wolken, wie sie
sich zu immer neuen Gebilden formten und immer wieder ihre Formen und
Bedeutungen änderten.
Ich war ein sensibles Kind, beseelt davon, anderen Gutes zu tun und zu helfen.
Doch leider waren diese Eigenschaften auf der Erde nicht so gefragt – und
anscheinend schon mal gar nicht bei einem Jungen – und so wurde ich in der
Schule oft gehänselt. Das änderte sich erst, als ich anfing Handball zu
spielen. Und ich war gut im Handball. Das verschaffte mir den Respekt meiner
Mitschüler, und die Hänselei war damit ein für alle Mal zuende.
Außerdem fing ich schon während der Schulzeit an, ein „richtiger“ Mann zu
werden. Schon früh waren Alkohol und Zigaretten ein wichtiger Bestandteil
meines Lebens. Aber es gab ja nichts anderes im Dorf und den Dörfern der
Umgebung – was also anderes sollte die Jugend tun? Irgendwie lebten wir alle
nach dem Motto: Bier gut – alles gut. Trotz allem fand ich nach der Schulzeit
eine gute Lehrstelle und später einen guten Arbeitsplatz im Kaufmännischen.
Meine Eltern stritten sich ständig. Das konnte ich nicht ertragen und litt sehr
darunter und bekam häufig Magenschmerzen deswegen. Schon im Alter von fünfzehn
Jahren wußte ich, dass ich niemals heiraten und mir das antun würde, solch ein
Leben in ewigem Streit.
Als meine erste Freundin mich nach mehreren Jahren verließ, da brach dann auch
für mich eine Welt zusammen, und viele, viele Jahre bin ich keine
längerfristige Beziehung mehr eingegangen. Es erschien mir zu riskant. Nie
wieder wollte ich verlassen werden! Und meinen Spaß hatte ich auch so.
Und so war mein Leben geregelt und ging so seinen Gang. Ich hatte meine Arbeit,
war beliebt bei Männlein und Weiblein, hatte mein Hobby, half anderen, so gut
ich konnte mit guten Ratschlägen und auch ganz handfest bei der freiwilligen
Feuerwehr.
Doch dann kam das erste Unglück: zwei meiner Freunde starben bei einem Unfall,
hinterließen Frau und Kind. Es war so ungerecht! Ich verzweifelte und verlor
meinen Glauben an Gott. Wie konnte ein liebender Gott so etwas zulassen und
zwei Menschen das Leben nehmen, die noch hier zu tun hatten, die so
lebenslustig waren und noch so viel vorhatten in ihrem Leben?!?! Ich begriff es
nicht.
Und später das zweite Unglück: die Grenzen nach Osten wurden geöffnet, und wir
in unserem Grenzdorf wurden überschwemmt von Leuten aus dem Osten. Unsere
Arbeitgeber stellten sehr bald fest, dass es billiger war, jenseits der Grenze
zu produzieren als auf dieser Seite, und so verloren Tausende ihren
Arbeitsplatz – ich auch.
Was macht ein Mann ohne Arbeit? Wo ist der Sinn des Lebens, wenn man keine
Arbeit mehr hat? Voller Elan suchte ich eine neue Arbeit – aber es gab keine
mehr, und ich fand nichts. Mein bester Freund wurden mein Weizen und mein
Fernseher.
Bis zur Heirat meiner Schwester blieb ich in meinem Elternhaus wohnen – trotz
des ganzen Streits und trotz aller damit verbundenen Magenschmerzen. Aber es
war bequem so: ich konnte machen, was ich wollte, und meine Mutter machte alles
für mich. Ich brauchte mich um nichts zu kümmern, weder wohnen noch essen noch
putzen noch waschen. Es hätte so ein schönes Leben sein können, wenn nicht
immer diese Streitereien gewesen wären, vor denen ich gern geflohen bin.
Als meine Schwester heiratete, gingen meine Eltern mit ihr mit, und ich blieb
allein im Haus zurück. Meine Mutter kümmerte sich nach wie vor um alles, wusch
meine Wäsche, brachte mir fertiges Essen und schimpfte mit mir, wenn sie das
Chaos sah, in dem ich lebte. Wenn sie das alles nicht mehr ertragen konnte,
dann putzte sie auch meine Wohnung.
Aber der Preis dafür war hoch: ich hatte keine Privatsphäre – hatte auch nie
eine gehabt – denn Mutter wollte immer alles wissen, las meine Post, suchte in
meinen Sachen herum und hatte überhaupt keinen Respekt vor meiner Privatsphäre.
Ich wagte es auch nicht, ihr klare Grenzen zu setzen. Anfangs nicht, weil ich
zu viel Respekt vor ihr hatte, später nicht, weil ich wegen einer größeren
Wohnung und der darauf folgenden Arbeitslosigkeit auch finanziell von ihr
abhängig war. Ich litt sehr darunter und stritt ständig mit ihr, wenn sie da
war, obwohl ich gar keinen Streit wollte. Anschließend hatte ich wieder
stunden- oder gar tagelang Magenschmerzen.
Als mich dann auch meine zweite langjährige Freundin verließ, beschloß ich, ein
guter Mensch zu werden. Ich wollte keine harten Sachen mehr trinken, da ich
mich unter ihrem Einfluß doch in meinem Gerechtigkeitssinn oft zu unüberlegten
Handlungen hinreißen ließ, wollte mich überhaupt nicht mehr betrinken und auch
auf mein wildes Leben mit den Frauen verzichten, zumindest für zwei Jahre. Am
Ende der zwei Jahre wollte ich meinen Weihnachtsengel finden, die Frau, mit der
ich bis zu meinem Lebensende glücklich sein wollte.
Mein bester Freund war und blieb jedoch mein Weizen, auch wenn ich nicht mehr
betrunken davon wurde. Ich hatte mein Leben im Griff, und es passierte genau
so, wie ich es geplant hatte. Nur eine Arbeit fand ich nicht mehr.
Und als die zwei Jahre fast um waren, da traf ich sie dann – im Internet. Ich
war ganz platt, dass sie das kleine Dorf an der Grenze kannte, wo ich wohnte.
Und sie erstaunte mich noch mehr. Sie wollte sogar hierher kommen, tausend
Kilometer wollte sie für mich fahren. Ich hielt es für sinnlos, da die
Entfernung einfach zu groß war zwischen uns, aber sie meinte, es gäbe immer
eine Lösung, und wollte kommen.
Zuerst einmal wurde ich krank, eine deftige Lungenentzündung, die ich lieber
allein auskurieren wollte. Ich hatte gutes „Heilfleisch“ und war auch bald
wieder gesund. Also machten wir einen neuen Termin aus. Und wieder wurde ich
krank. Diesmal mußte ich mit einem Magendurchbruch ins Krankenhaus. Nach einer
Woche durfte ich wieder nach Hause. Meine Eltern holten mich ab, und jedesmal,
wenn ich versuchte, Noelle, meinen Weihnachtsengel, anzurufen, war sie nicht
da. Obwohl wir uns zwei Wochen lang gesprochen hatten, wußte sie alles. Sie
hatte gespürt, wie schlecht es mir gegangen war, sie hatte gespürt, wann alles
wieder in Ordnung war, und sie hatte gespürt, dass ich die ganze Zeit in
Gedanken bei ihr war. Ich wußte nun, dass sie die Richtige war, diejenige, der
ich mich bis zu meinem Tode anvertrauen konnte. Und so klappte dann auch unser
nächster Versuch, uns zu treffen und persönlich kennenzulernen.
Wir verstanden uns so gut, dass wir wußten, wir würden Freunde sein, wenn wir
uns treffen, aber wir ließen es offen, ob wir auch ein Liebespaar würden. Weiß
man vorher, ob man sich auch riechen kann – im wahrsten Sinne des Wortes – wenn
man sich persönlich gegenübersteht?
Als ich sie dann sah, gefiel sie mir sofort, und ich wünschte mir, wir würden
ein Liebespaar werden. Sie strahlte mich an und strahlte so eine Fröhlichkeit
und Lebensfreude aus, dass ich mich sofort in sie verliebte.
Wir verbrachten ein paar wunderschöne Tage miteinander, waren traurig, als wir
uns wieder trennen mußten, und freuten uns auf ein hoffentlich baldiges
Wiedersehen.
Einmal – über Weihnachten – war ich bei ihr, und ansonsten kam sie immer zu
mir. Wir liebten uns, und wir stritten uns. Aber alles in allem tat sie mir
gut, und ich freute mich auf ihr Kommen. Ich liebte ihr Lachen, ihre
Intelligenz, unsere Unterhaltungen, ihren Körper. Ihr Mut und ihre
Unerschrockenheit machten mir Angst – nicht um mich, um sie. Ich hatte oft
Angst um sie, Angst sie zu verlieren bei irgendwelchem Blödsinn, der sie
vielleicht das Leben kosten würde.
Ich liebte das Leuchten in ihren Augen, wenn sie mich sah. Ich fragte mich, was
sie an mir findet, empfand ich mich selber doch als Versager und konnte nicht
begreifen, dass sie mich liebte. Ebenso erstaunt war sie, dass ich so vieles an
ihr sah – und liebte, war sie es doch nicht gewohnt, dass jemand etwas sah und
liebte. Sie war es gewohnt, kritisiert zu werden, sobald man etwas an ihr oder
sie selber sah.
Es machte mir Freude, sie mit lustigen Filmen zum Lachen zu bringen. Es machte
mir Freude, wenn ich sie glücklich sah. Es machte mir einfach Freude, ihr
Freude zu machen.
Aber ich bekam zu viel, wenn sie anfing, mich zuzulabern – und sie war auch
nicht zu stoppen – bis zu dem Tag, an dem sie kam, sich dafür entschuldigte und
mir versprach, es niemals wieder zu tun. Sie hatte es da selbst erlebt und
wußte nun, wie es war und was es bringen würde: nämlich genau - nichts.
Ich liebte ihren Scharfsinn und ihre Fähigkeit, Lösungen zu finden. Ihren
unerschütterlichen Glauben daran, dass alles im Leben einen Sinn hat, fand ich
fast schon ein wenig weltfremd, aber er imponierte mir. Und sie lebte
anscheinend auch gut damit nach allem, was ihr schon an Schlimmem widerfahren
war. Selbst ihre schwere Krankheit sah und merkte man ihr kaum an. Obwohl ich
sah, dass ihre Sicht der Welt anscheinend „funktionierte“, sowohl zu ihrem als
auch zum Wohle derer, für die sie sich einsetzte, war mir das alles zu fremd,
vor allem zu welt- und realitätsfremd, als dass ich es hätte übernehmen wollen
oder können.
Auch für mich fand sie eine Lösung, die sowohl die Probleme mit meiner Arbeit
und mit meiner Mutter auf einen Schlag gelöst hätten, aber ich hatte schon
nicht mehr die Kraft und den Mut, das in die Tat umzusetzen. Ich hätte es auch
nie gewagt, meine Mutter zu brüskieren und den Verlust ihrer Zuwendung zu
riskieren. Und so legten wir dieses Thema zu den Akten.
Und dann kam dieser Tag im Sommer. Die Sonne knallte hernieder, und es war
heiß. Wir gingen spazieren in der Affenhitze. Ich bekam Kopfschmerzen und
dachte, es wäre von der Sonne. Aber es war nicht von der Sonne. Es war etwas
anderes, aber das wußte ich damals nicht.
Am nächsten Tag stritten wir uns ganz fürchterlich. Noelle provozierte mich so,
daß ich fast auf sie losgegangen wäre. Sie war total erschrocken – und ich
ebenfalls. Nie wieder wollte ich das tun, nie wieder wollte ich wütend werden –
ich wollte nur noch ein guter und ruhiger Mensch sein. Und was sagte sie? Sie
wollte mir doch tatsächlich weismachen, dass ich durch diese Wut hindurch müßte,
daß ich meine Wut spüren mußte, um zum Leben (zurück?) zu kommen. Ich war
fassungslos. Wußte sie denn nicht, was sie damit heraufbeschwören würde? Welche
ungeheure Wut ich in mir trug, eine Wut, die ausgereicht hätte, die ganze Welt
zu zerstören? Wie konnte sie mir das – ausgerechnet das – vorschlagen?!?!
Ganz ruhig antwortete sie mir, genau diese Angst hätten auch sie und andere vor
der immensen Wut und dem immensen Haß, den sie in sich getragen hätten, auch
gehabt. Aber wenn sie es sich erlaubt hatten, diese Wut zu fühlen – nicht sie
auszuleben! – es ging nur darum, sie zu fühlen, dann ist am Ende rein gar
nichts passiert, außer dass sie eine große Trauer gefühlt und danach ihren
Frieden gefunden hätten. Ich konnte es nicht fassen. So ein Blödsinn! Nein, das
würde ich niemals tun, meine Wut zulassen. Das war mir viel zu gefährlich. Es
war schon schrecklich genug, dass sie es geschafft hatte, mich so dermaßen zu
provozieren.
Dann sagte sie noch, meine Wut wäre ja berechtigt. Und sie sagte, sie verstünde
nun, warum man andere Menschen so provoziert. Sie sagte, sie hätte mich nie so
lebendig erlebt, wie in dem Augenblick, in dem ich auf sie losgegangen bin. Und
das hätte sie so erschreckt, diese Lebendigkeit in diesem Augenblick, die sie
vorher an mir wohl nicht erlebt hatte. Sie meinte, normalerweise würde ich so
lebendig nicht wirken. Oje! Ich war entsetzt, mir qualmte der Kopf, und ich
verstand nur noch Bahnhof. Welch einen Blödsinn laberte sie da! Niemals würde
ich meiner Wut erlauben, sich auch nur noch ein einziges Mal bemerkbar zu
machen! Niemals!
Und von da an ging's bergab. Noelle verließ mich noch am selben Tag mitsamt
ihrem Gepäck. Sie hatte noch etwas vor gehabt, aber ich wußte nicht, welche
Angst sie davor hatte, ich würde sie nach unserem Streit nicht mehr in die
Wohnung lassen. Ich ging davon aus, sie wußte, dass ich mich nach jedem Streit
immer wieder schnell beruhige. Und so ging sie einfach, wünschte mir alles
Liebe und Gute und bedankte sich für alles, was sie durch mich und mein
Verhalten lernen und begreifen durfte. Ich wollte ihren Dank nicht, fand ihn
völlig unberechtigt. Und dann war sie weg.
Mir ging es schlecht. Aus meinen Kopfschmerzen, einem eher dumpfen Druck in der
Stirne, wurde Nasenbluten. Das Arbeitsamt hatte mich mal wieder gesperrt, weil
deren Post nicht bei mir angekommen war und ich mich somit nicht bewerben
konnte, so dass ich noch nicht mal zum Arzt gehen konnte, da ich ja nicht
versichert war während der nächsten drei Monate. Der Streß mit dem Arbeitsamt
war einfach zermürbend – so ein bißchen Nasenbluten konnte ja so schlimm nicht
sein, aber beunruhigend war es trotzdem.
So nach und nach verlor ich eine ziemliche Menge an Blut. Ich spürte, wie ich
immer schwächer und schwächer wurde. Eines Tages klingelte das Telefon. Es war
Noelle. Sie war wieder da! Und sie wollte mich besuchen kommen, nachdem wir ein
paarmal wieder zusammen telefoniert hatten. Ich erzählte ihr, wie es mir ging
und dass ich ins Krankenhaus gehen wollte. Aber ich ging nicht. Ich freute mich
auf Noelle und blieb lieber zuhause. Sie wunderte sich, dass ich so schnell
wieder zurück war und dass sie gar nichts gemacht hatten im Krankenhaus. Ich
sagte ihr, ich hätte ein Blutgerinnsel gehabt, das sich aufgelöst hätte – aber
sie glaubte mir nicht so recht. Und das Bluten hatte ja auch nicht so ganz
aufgehört.
Wir verlebten eine wunderschöne Woche zusammen, und ich war ihr sehr dankbar,
daß sie mich so annahm in all meiner Schwäche. Wir sprachen viel über's Sterben
und sahen uns auch einige Spielfilme zu dem Thema an. Sie meinte zwar immer: so
schnell stirbt man nicht, war aber doch oft erschrocken über alles, was darauf
hindeutete, dass ich wohl wirklich nicht mehr lange leben würde.
Es ging mir schlechter und schlechter. Ich wurde schwächer und schwächer, und
eines Tages war ich so schlapp, dass ich in der Badewanne ausrutschte und voller
blauer Flecken war. Ich konnte mich kaum noch rühren vor Schmerzen und
versuchte, diese mit Weizen zu betäuben. Aber selbst das funktionierte nicht
mehr. Die Schmerzen blieben, und betrunken wurde ich auch nicht.
Anfang Dezember besuchte Noelle mich noch einmal zuhause, aber dann mußte ich
endgültig ins Krankenhaus. Ich konnte mich kaum noch rühren, und sie war so gut
zu mir. Es tat mir so leid, dass ich nichts mehr für sie tun konnte.
Meine Eltern besuchten mich jeden Tag im Krankenhaus, doch dann verlegten sie
mich in ein Spezialkrankenhaus, das ziemlich weit weg von meiner Heimat aber
näher bei Noelle war, und dort besuchte sie mich ein paarmal. Es tat mir so
leid um sie, dass sie mich so sehen mußte, aber sie freute sich jedesmal so
sehr, mich zu sehen. Ich konnte es kaum glauben. Es war schön, wenn sie da war.
Im Krankenhaus gab man sich alle Mühe, mich am Leben zu halten, aber ich mochte
nicht mehr. Es tat mir nur leid, dass ich Noelle verlassen mußte – und ich kam
gar nicht auf die Idee, welchen Schmerz ich ihr damit zufügen würde. Es wäre
mir im Träume nicht eingefallen, dass es einen Menschen geben könnte, der mir
ernsthaft nachtrauern würde. Sie sagte zwar immer, ich würde ihr gut tun. Aber
würden das nicht auch andere? Sie sagte, sie würde innerlich so ruhig durch
meine Stimme – und ich meinte, ich würde sie langweilen. Sie erzählte mir, daß
ich eine Ausstrahlung hätte, die sie beruhigen und ihr Frieden geben würde –
aber das nahm ich nicht so ernst. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich
je einem Menschen hätte wichtig sein können. Also beschloß ich zu gehen. Es
reichte mir einfach.
Nachts um drei rief ich sie. Ich hoffte darauf, dass sie mich hörte und ins
Krankenhaus käme. Aber sie kam nicht. Eine Krankenschwester saß bei mir, damit
ich nicht alleine wäre. Während mir das Blut aus allen Poren lief, hauchte ich
meine Seele aus. Ich verließ meinen Körper und tauchte langsam wieder ein in
meinen siebten Himmel der Glückseligkeit, mußte mich erstmal wieder berappeln,
wo ich war.
Wieder im Siebten Himmel
Während ich mich noch schüttele und dabei bin, meine irdische Existenz
abzustreifen, empfängt mich schon Elleon, der Schutzengel von Noelle, mit den
Worten: „Na du Weltenbummler! Auch wieder da?“ und grinst mich an.
Ja, ich bin wieder da. Aber zuerst mußt ich noch etwas erledigen. Ich sehe
Noelle. Sie sitzt im Zug und ist auf dem Weg zu mir ins Krankenhaus. Ich will
gleich zu ihr gehen, aber Elleon hält mich fest. „Sie hat dich gehört, Leon“,
sagt er zu mir, „aber ich habe sie ins Bett geschickt, damit sie schläft. Und
sie hat geschlafen – wunderbar tief und fest. Andernfalls würde sie das, was
ihr jetzt noch bevor steht, kaum überstehen.“ Ich nicke. Ich habe eh längst
begriffen – bin ja wieder zuhause.
Ich setze mich also zu ihr in den Zug, wo sie mich erwartet hat. Sie freut
sich, mich zu sehen, und hat es eh längst gewußt, dass ich nicht mehr lebe. Sie
soll auch noch mehr wissen auf dieser Reise, einfach damit sie auch das glaubt,
was sich auf der Erde nicht mehr überprüfen läßt. Sie sah, sie wußte, und sie
glaubte.
Meine Beerdigung ist eine einzige Katastrophe. Der einzige Lichtblick ist
Noelle. Ich freue mich, dass sie ihr Versprechen wahr gemacht hat und gekommen
ist. Die nächsten Tage verbringe ich noch in ihrer Nähe, aber dann ziehe ich
mich so nach und nach zurück und lebe wieder in meiner Welt. Es erschreckt mich
zu sehen, wie sie hinter mir herkommen will, weil sie sich auf einmal so allein
und unverstanden fühlt mit all ihren Erfahrungen, die sie nun gemacht hat.
Immer und immer wieder mache ich ihr begreiflich, dass sie bleiben muß, und sie
versteht mich auch. Elleon und ich sorgen dafür, dass sie immer wieder auf
Menschen trifft, die sie verstehen und die ähnliche Erfahrungen gemacht haben,
Menschen, die ebenfalls erlebt haben, dass das Leben mit dem Tod nicht zuende
ist.
Ich brauche Noelle. Ihre Erfahrungen und ihr Urteil aus ihrer Sicht auf der
Erde sind mir sehr wichtig. Ich sehe, dass Noelle durch Gespräche mit anderen
und eigenen Erfahrungen immer mehr zu der Überzeugung kommt, dass ein Mensch nur
dann eine Chance hat, Liebe zu leben, wenn er irgendwann und irgendwie in der
Kindheit zumindest ein einziges Mal erlebt hat, dass es noch etwas anderes gibt
als das vertraute Elend, das so viele Kinder umfängt. Ihre „Therapie“ für mich
war ebenfalls, ich sollte einmal das Licht und die Liebe sehen und dann als
Kind wieder zurück kehren in eine Umgebung, wo es möglich ist, Lebensfreude zu
erfahren. Sie meinte, das Wesentliche, was mir als Mensch gefehlt hätte, wäre
Lebensfreude. Und sie meinte auch, wenn ich es nur einmal gesehen hätte, dann
bräuchte sie nicht mehr zu reden, um mir davon zu erzählen, dann wüßte ich ja,
daß es das gibt. Und sie meinte ebenfalls, es wäre einfacher, einem Kind die
Lebensfreude nahe zu bringen als einem Erwachsenen, der schon zu lange in der
sogenannten Realität lebt, die sich ganz besonders durch Freudlosigkeit
auszeichnet und die die Erwachsenen sich ständig gegenseitig bestätigen.
Ich habe ja selber erlebt, wie es ist und wie schwer oder gar unmöglich es ist,
aus diesem Kreislauf herauszukommen, wenn man gar keine Vorstellung von etwas
anderem hat. Was sollen wir nun tun, Elleon? Ich habe das Gefühl, unser Konzept
geht nicht auf, Elleon. Die Menschen lernen keine Liebe dadurch, dass sie immer
wieder mit den Folgen ihrer Lieblosigkeit konfrontiert werden. Sie können es so
nicht lernen, weil sie keine Vorstellung von dem haben, was möglich ist. Und
ohne eine Vorstellung von etwas anderem, das den Menschen auch real und
realisierbar erscheint, können sie keine Liebe lernen.
Es ist gut, dass so viele von uns zur Zeit auf der Erde leben und auch genau
dieselbe Erfahrung machen wie ich. Mit all diesen Zurückgekehrten können wir
ein neues Konzept erstellen, wie auch die Erde zu einem Plante der Liebe werden
kann. Als erstes schlage ich vor, in den Menschen die Sehnsucht nach etwas
anderem zu wecken.
Und dafür brauchen wir Noelle, den sie kann das, was ich als Mensch auf der
Erde so gern getan hätte: Geschichten schreiben, wunderschöne Geschichten, von
denen die Menschen wünschten, sie wäre war. Wie anders solle man sonst die
Sehnsucht wecken in all dieser als grausam erlebten sogenannten Realität, die
so weit entfernt von der Wirklichkeit der Liebe ist.
Elleon, der Weg des Karma und der Konfrontation mit den Folgen ihres Handelns
funktioniert nicht, er führt definitiv nicht zu mehr Liebe sondern immer nur zu
noch mehr Lieblosigkeit, weil dadurch immer mehr Menschen mit der Lieblosigkeit
als einziger Realität konfrontiert werden als mit der Liebe. Und wenn ich es
nicht selbst erlebt hätte, ich würde es nicht glauben! Von hier aus sieht es so
logisch aus, den Weg, der nicht funktioniert, zu verlassen und einen anderen
einzuschlagen. Aber in der Wirklichkeit der Menschen kannst du nur den Weg
einschlagen, von dem Du zumindest eine ungefähre Ahnung hast. Aber je weniger
Menschen es gibt, die überhaupt nur eine Vorstellung von dem haben, was möglich
sein könnte, um so weniger Menschen werden es wagen, den Weg der Liebe zu
gehen. Sie fühlen ja die Liebe in ihrem Herzen, aber das, was sie tun, kommt
nicht als Liebe an, weil sie einfach nicht wissen, wie „es geht“.
Was mich in dem Zusammenhang besonders traurig macht, ist zu sehen, wie sehr
meine Mutter mich liebt und wieviel Schmerz ich ihr und all denen bereitet
habe, die mich geliebt haben. Solange ich auf der Erde war, wäre ich nie auf
die Idee gekommen, dass es jemandem weh tun würde, wenn ich gehen würde. Ich
fühlte mich so wertlos und überflüssig. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß
meine Mutter mich liebt. Ich hatte immer den Eindruck, ihr nicht zu genügen und
eine Belastung für sie zu sein. Ich konnte ihr auch nichts recht machen, und
sie wollte alles unter Kontrolle haben. Sie war eben eine ganz normale Mutter,
die sich bemüht hat, eine gute Mutter zu sein. Ich danke ihr sehr dafür, daß
sie sich bereit erklärt hat, meine Mutter zu sein, und ich bitte sie um
Verzeihung, dass ich ihr so viel Schmerz zugefügt habe. Aber so wie sie erlebe
ich viele Mütter: sie lieben ihre Kinder von Herzen, aber die Kinder fühlen
sich nicht geliebt, nur gegängelt. Noelles Augen haben geleuchtet, wenn sie
mich sah – die Augen von Müttern leuchten nicht, wenn sie ihre Kinder sehen.
Das, was Noelle und ihre Freundinnen beobachtet haben, ist u.a. folgendes: ein
liebender Mensch inmitten von sogenannten Realisten verschwendet eine
Wahnsinnsenergie nur um seinen eigenen Level nicht zu verlieren und kann kaum
etwas bewirken. Die Relation von Aufwand zu Nutzen steht in keinem Verhältnis
zueinander. Wesentlich effektiver erscheint es mir anders herum: einige wenige
lieblose Realisten in einer Gruppe von Menschen zu integrieren, die ganz
selbstverständlich Liebe leben und all die Lieblosen, die sich ja auch gar
nicht vorstellen können, in ihrer angeblichen oder tatsächlichen Schlechtigkeit
geliebt zu werden und Liebe überhaupt zu verdienen, mit alle ihren
Abwehrmechanismen aufzufangen.
Ich denke, die Erde wird noch eine Zeit der Lieblosigkeit erfahren, da ich
nicht bereit bin, all die liebenden Menschen weiter mit ihren Kräften zu
verschleißen. All diejenigen, die nun auch dieselben Erfahrungen gemacht haben
wie ich, wissen ja nun auch, was los ist: den Menschen fehlt einfach die
Freude, die Freude am Leben, die Freude am anderen und vor allem die Freude an
ihren Kindern.
Die Prophezeiungen der großen Seher gehen alle dahin, dass es eine Art
Gottgericht geben mit Kriegen und Katastrophen, also eine große zeit der
Bewährung und des Elends. Diese Zeit werden nur wenige überleben. So also die
Seher.
Ich finde, wir sollten diese Zeit nutzen, dass die Mächtigen, die all dieses
Elend zu verantworten haben, die Chance bekommen, die Erde wieder in Ordnung zu
bringen und wieder bewohnbar zu machen. Da zu dieser Zeit nur wenige Menschen
auf der Erde leben, sollten diejenigen, die bereit sind, den Weg der Liebe zu
leben und Wege des liebevollen Zusammenlebens zu finden, die Möglichkeit haben,
in anderen Gebieten der Erde dieses ungestört auszuprobieren.
Wer sich auf der Erde inkarnieren möchte, der sollte stets darauf achten, daß
er in ein Umfeld geboren wird, in dem Lebensfreude auf jeden Fall möglich ist.
Auf diese Weise müßte doch gewährleistet sein, dass sich so nach und nach die
Liebe und Lebensfreude auf der Erde ausbreiten. Was sagst du dazu, Elleon?
Ich denke, du hast recht, Leon. Für mich ist das alles so unglaublich und
unvorstellbar, was du erzählst, aber andere erzählen dasselbe wie du.
Sieh mal, Elleon: Wir wissen doch jetzt, dass aller Enthusiasmus, aus unserer
Welt des Lichts und der Liebe die Liebe auf die Erde zu bringen, nicht
funktioniert, weil wir in einem Menschenleibe alles vergessen, was je gewesen
ist, und geformt werden von den Bedingungen, die wir in diesem Erdenleben
vorfinden. Selbst ich als Engel habe den Glauben an Gott verloren, weil ich
nichts mehr wußte von Gott und der Liebe.
„Hast du ihr inzwischen eigentlich gesagt, wer du bist, Leon?“ „Ja, habe ich,
Elleon.“ „Und?“ „Es geht ihr besser jetzt. Sie weiß, dass ich nicht mehr
wiederkomme und sie nicht mehr auf mich warten muß.“
„Und bist du dir darüber im Klaren, was das, was sie jetzt alles erfahren hat,
für sie bedeutet, Leon?“ „Ja, Elleon, es ist mir klar. Sie wird nicht nur ein
Außenseiter sein bei den sogenannten normalen Menschen, sondern ebenfalls in
der Esoterikergemeinde kein Bein mehr auf die Erde bekommen, weil diese sich an
ihre Glaubenslehren vom Karma halten. Die einzigen Menschen, die ihr noch
bleiben, sind die, die ebenfalls mit offenen Augen durch die Welt gehen und
deshalb ebenfalls sehen, was wirklich passiert. Jede Gruppierung auf der Erde
schafft sich ihre eigenen Wahrheiten, die sie sich gegenseitig immer wieder
bestätigt und dann auch hartnäckig gegen jede neue Einsicht verteidigt. Nur
wenige Menschen sind wirklich offen und zugänglich für die Wirklichkeit.“
Eine märchenhafte Geschichte, erzählt von Sabine Gabriel