Das Märchen von der kleinen nackten Wahrheit
Es war einmal eine kleine Wahrheit, und die war nackt. Sie fühlte sich so
hässlich und versuchte, ihre Blöße zu bedecken. Da kamen die Menschen und
hatten Mitleid mit ihr, und sie schenkten der kleinen Wahrheit ein schönes
Kleid, auf dass sie schöner aussähe.
Die kleine Wahrheit fühlte sich immer noch hässlich, und so bekam sie nach und
nach hübsche Strümpfchen und Schuhe, ein Mützchen und ein feines Mäntelchen.
Sie gefiel sich besser und besser, und erst, als gar nichts mehr von ihr zu
sehen war, da gefiel sie sich endlich.
Nun war aber von der kleinen nackten Wahrheit unter all den Kleidchen und
Schürzchen und Schühchen und Strümpfchen und dem feinen Mäntelchen rein gar
nichts mehr zu sehen, und so wurde die Lüge geboren, die Lüge, die viel schöner
war als die kleine nackte Wahrheit und die auch den Menschen viel besser gefiel
als die kleine nackte Wahrheit, die sie so hässlich fanden – und irgendwie auch
peinlich, wie sie so nackt da stand in all ihrer Reinheit und Unschuld und
Verletzbarkeit.
Nun waren sie alle zufrieden: die kleine Wahrheit, weil sie unter all den
angezogenen Menschen nimmer nackt war, und die Menschen, weil sie die Wahrheit
so schln gekleidet hatten.
Doch dann kam die Liebe, blickte mit den Augen der Liebe umher und suchte die
kleine Wahrheit unter all den Menschen. Doch zunächst fand sie sie nicht, weil
sie sich so schön gekleidet hatte in schöne Gewänder und ein feines Mäntelchen,
das alles zudeckte, was jemals die kleine nackte Wahrheit gewesen war.
Doch dann erkannte sie die kleine Wahrheit doch wieder und blicke sie liebevoll
an. In diesem liebenden, liebevollen Blick fühlte die kleine Wahrheit sich auf
einmal gar nimmer hässlich sondern wunderschön und geliebt und angenommen. Die
schönen Kleider und das feine Mäntelchen waren ihr auf einmal peinlich, und so
zog sie alles ganz schnell wieder aus und stand nun da in all ihrer Nacktheit
vor der Liebe, die sie liebevoll, liebend und wohlwollend anblickte, dass es
der kleinen Wahrheit ganz warm ums Herz wurde und sie beschloss, dass sie nie
wieder fremde Kleider tragen wollte.
Die Menschen aber, die nicht die Liebe waren, fanden die kleine nackte Wahrheit
aber immer noch potthässlich und super peinlich in ihrer Nacktheit, so dass sie
gleich das Mäntelchen wenigstens wieder über sie werfen wollten. Im Anblick der
Liebe aber konnte die kleine Wahrheit das feine Mäntelchen einfach nicht
ertragen, und so warf sie es gleich wieder fort.
Die Menschen, die nicht die Liebe waren, waren entsetzt, und seit diesem Tage
hassen sie die Liebe und die Wahrheit, die seit diesem Tage glücklich vereint
und immer nur noch Hand in Hand anzutreffen sind. Und wenn sie nicht gestorben
sind, dann leben sie auch heute noch, und wenn Ihr die Augen aufmacht, dann
könnt Ihr sie sehen, die kleine Wahrheit in aller ihrer zarten Nacktheit und
die Liebe, die immer bei ihr ist, sie beschützt und behütet, damit der Hass der
Menschen, die nicht die Liebe sind, ihr nichts anhaben können.