Schinderhütte oder Fallhütte zwischen Marktleuthen, Reicholdsgrün und Raumetengrün
Bei Marktleuthen im Fichtelgebirge gibt es eine Gegend, die im Volksmund
Bei der Schinderhütte genannt wird. Da soll's übrigens die meisten und schönsten Steinpilze geben, das sagten viele. Nachdem mein Vater mir erklärt hatte, dass der Schinder die alte Form einer
Tierkörperbeseitigungsanstalt war, stellte ich mir vor, dass sich die vielen Pilze von den Kadavern der vergrabenen Kühe, Pferde und Schweine ernährten. Sie deshalb nicht zu essen, kam mir nicht in den Sinn, war doch alles tot, was wir aßen, egal ob die Schweine, die das Sommerhalbjahr lang im Stall grunzten oder der Hahn, oder das
Huhn Helene, das ich gezähmt hatte und das mein Spielzeug war, bis es in der Bratpfanne und im Ofenrohr landete.
Hausschlachtungen
Es machte mir auch nichts aus, beim Abhacken des Hühnerkopfes zuzuschauen. Einmal schlachteten wir einen Truthahn, der 27 Pfund auf die Waage brachte. Der Vater hackte, die Mutter hielt ihn, zumindest versuchte sie es. Ohne Kopf flatterte er minutenlang wild im Bauerngarten herum! Berichte, wie Hühner und Ähnliches mit abgehacktem Kopf davonflogen, sind
Legenden und gehören ins Reich lebendiger Phantasie. Abheben können sie nicht, dazu bedarf es der Koordination durch den Kopf.
Für solch kleine Tiere braucht's allerdings keinen Abdecker. Wenn sie starben und man sie nicht essen konnte, wurden sie im Garten vergraben. Ich kann mich nicht erinnern, dass bei uns eine Kuh oder ein Schwein gestorben war, das wir nicht essen konnten, aber offenbar gab es das auch. Größere Bauern erzählten davon, von Tierkrankheiten, verunglückten Kälbergeburten oder, wenn man Glück hatte, von Notschlachtungen.
Vermutlich ein Rinderzahn, ausgegraben von Füchsen bei der Schinderhütte Marktleuthen
Tierkörperbeseitigung
Die Beseitigung von gestorbenem Großvieh war auch früher schon durch Gesetze oder lokale Verordnungen geregelt. Schon im Mittelalter wussten die Menschen von der Gefährlichkeit verfaulender Tierkadaver, auch wenn man die Ursache nicht kannte. Erst als 1872 Hermann Cohn die Bazillen entdeckte, fand man nach und nach heraus, welche Krankheiten auf welchen Krankheitserregern beruhten. Schon im 17. Jahrhundert hatte der niederländische Naturforscher
Antonie van Leeuwenhoek entdeckt, dass in scheinbar Totem etwas winziges lebt, das man mit bloßem Auge nicht sehen kann. Mit einem selbstgebauten Mikroskop erforschte er vor allem Spermien und bewies damit, dass Schwangerschaften beim Geschlechtsverkehr nicht durch Spontanzeugung oder auf spirituelle oder göttliche Weise entstehen, sondern einfach durch biologische Prozesse.
Die Schinderhütte
Heute, in den historischen Karten des Bayernatlas, ist die Schinderhütte als
Fallhütte am Lindenbühl eingezeichnet. Zwischen Marktleuthen, Reicholdsgrün und Raumetengrün gelegen befindet sie sich jetzt schon auf dem Gebiet der Nachbarstadt
Kirchenlamitz. Damals konnte ich zunächst nicht herausfinden, wo der Schinder sein Gewerbe genau ausgeübt hatte, bis ich von einem Bekannten eine alte Karte bekam, auf der sie eingezeichnet ist, als
Fallhütte, knapp auf Kirchenlamitzer Gebiet.
Nordöstlich von Reicholdsgrün fließt ein offenbar namenloser Bach von der Grabenflur und dem Spindelgrieß Richtung Krebsbächl, der einige Fischteiche speist. Folgt man ihm bachaufwärts, findet man links am Waldrand ein eingeebnetes Rechteck von ca. 12 x 5 m, teilweise mit Granitsteinen eingefasst. Eine weitere kleine eingeebnete Fläche könnte ein Gärtchen gewesen sein, oder ein Schuppen. Abgrabungen des Hangs am Waldrand könnten ein Weg gewesen sein. Eine alte Frau aus Reicholdsgrün bestätigte mir, dass dort früher eine verfallene Holzhütte stand, etwa 200 m von der eingezeichneten Stelle entfernt. Vielleicht hatte der Schinder, offiziell Abdecker und früher Wasenmeister genannt, seine Wohnhütte etwas entfernt von seinem Arbeitsplatz, kein Wunder bei dem bestialischen Gestank, der dort wahrscheinlich herrschte und den Fliegen, die dieser anlockte.
Der Platz der Schinderhütte, der Fuchsbau und des Schinders Kaffeetopf
Dort wo die eigentliche Fallhütte eingezeichnet ist, fanden wir zunächst nur einen großen Fuchsbau. Auf den ersten Blick sonst nichts, außer einem kleinen, grünen gepunkteten, emailliertem, verrosteten Kaffeetopf, bei uns
Tipfl (Töpfchen) genannt. Vielleicht hat der Schinder ja daraus seinen Malzkaffee getrunken. Als wir Knochenreste und riesige schwere Zähne fanden, die wahrscheinlich einmal einer Kuh oder einem Pferd gehörten, merkten wir, dass die Füchse, und wahrscheinlich auch andere Tiere, für uns die
archäologischen Ausgrabungen
übernommen hatten.
Noch etwas herausschinden
Schinder, Abdecker oder Wasenmeister war kein ehrbarer Beruf. Er verdiente seinen Unterhalt durch Verkauf der teilweise verarbeiteten Kadaver-Reste: Leder aus den gegerbten Tierhäuten, Felle, Lampentalg aus dem Fett, Knochenleim, Seife und Viehfutter. Deshalb gibt es die Redensart «
Aus etwas wertlosem noch etwas herausschinden.» Staatlich angestellte Abdecker gab es nur bei größeren Städten.
Es gab für die Tätigkeit keine Zunft oder Handwerksrolle. Oft übten sie nebenbei auch die Arbeit des Henkers (Scharfrichters) aus. Köpfen und Aufhängen kamen in ländlichen Gebieten allerdings nur selten vor, deshalb war es höchstens ein Nebenberuf, zu dessen Aufgaben allerdings auch
Folterungen gehörten. Gab es keine verendeten Tiere, musste sich der Schinder als Tagelöhner verdingen oder als Gemeindehirte etwas dazuverdienen.
Hygiene?
Wegen der Seuchengefahr und des Gestanks lagen die Schinderhütten immer etwas außerhalb der Siedlungen. Der Ort wird in manchen Gegenden
Schindanger genannt und diente oft auch zum Begraben unehrenhafter oder hingerichteter Menschen, für die es auf dem Friedhof keinen Platz gab. Harald Stark hat die Geschichte einiger Schinder-Familien erforscht und festgestellt, dass die Lebenserwartung der Abdecker trotz des ständigen Kontakts mit Krankheitserregern, toten Körpern und Fäulnis kaum von der anderer Berufe abwich. Starkes und trainiertes Immunsystem? Oder ist das gar gesund? Was deutlich auffiel ist, dass es ständig uneheliche Kinder gab. Sodom und Gomorra im Wald? Nein, oft durften Leute mit unehrenhaften Berufen nicht kirchlich heiraten. So lebten sie eben ohne den Segen der Kirche zusammen, und die Kinder trug der Pfarrer dann als unehelich ein!
Milzbrand, Anthrax
Einen Schreck bekam ich, als ich bei Recherchen den Satz las: »Rund um Fallhütten sollte man auch heute nicht graben, denn Milzbranderreger, die berüchtigten Anthrax-Bakterien, bilden Sporen, also Dauerformen, die Jahrhunderte lang gefährlich sein können!« Und wir hatten die Knochenreste und Zähne einfach in die Tasche gesteckt! Eine spätere Nachfrage beim Doktor ergab die Aussage: »Wenn da was gewesen wäre, dann wüsstest du's jetzt schon.« Sehr beruhigend!
Bevor ich die Zähne und Knochen beim Arbeitskreis Heimatforschung zeigte, legte ich sie bei 200°C eine halbe Stunde in den Ofen. Das soll helfen. Jetzt liegen sie harmlos in der Vitrine ...
Eine Bekanntmachung der
Marktsverwaltung Marktleuthen über die Gebühren des Wasenmeisters vom 19. September 1917, Vorläufer der Tierkörperbeseitigungsanstalten, Abb.:
Harald Stark, Stadtarchiv Marktleuthen