Nachdem sie mühsam die Augen öffnet, sieht sie rundum fast nur Himmel, ein paar flaumige Schäfchenwolken. Versuche, sich langsam zu bewegen, verursachen stechende Schmerzen, lag sie doch auf hartem unebenem Granitgestein, anscheinend schon länger. Um sich aufzurichten muss sie alle Energie aufbringen, von der es im Moment wenig zu geben scheint. Die wunderschöne Aussicht irgendwo sehr hoch oben wäre großartig gewesen, hätte sie nicht schlagartig begriffen, dass sie sich hoch über den Bäumen auf einer Felsspitze mit senkrecht abfallenden Wänden befand. War das ein Albtraum?
Der Schock traf sie völlig unvorbereitet. Sie war wach, das war kein Traum, und hier herauf war sie nicht selbst gekommen. Hinlegen, Beine hochlegen, tief und ruhig atmen, erst mal zu sich kommen, Gedanken und Kräfte sammeln. Versuche, sich auf ihre wackligen Beine zu stellen, sind zunächst nicht erforderlich. In jede Richtung, ein paar Meter im Umkreis eine schroffe Kante und jenseits davon - Luft, Nichts! Hatte sie nicht geträumt, ein Greifvogel zu sein? Hatte sie sich verwandelt, war als Vogel hier gelandet und eingeschlafen? »Werde ich verrückt?« Die Kopfschmerzen und die Übelkeit verschwinden langsam und machen einem komischen Gefühl der Geborgenheit Platz. »Naja, an einem Autounfall kann ich hier oben jedenfalls nicht sterben.«, kurzes Lachen.
Rapunzel
In der Nähe liegt etwas aus rotem Plastik. Auf allen Vieren ganz vorsichtig hingekrochen entpuppt es sich als zwei gefüllte Mineralwasserflaschen. Darunter ein Zettel: "Teil's dir ein!". Kurzes Nachdenken sorgt für den nächsten Schock. Es gab nur eine Erklärung: Jemand hatte sie betäubt, hier heraufgeschafft und abgelegt. Wahrscheinlich mehrere, für einen allein wär's grenzwertig. Einen einzementierten Kletterhaken gab es natürlich, waren solche Felstürme doch eine beliebte Herausforderung für Kletterer. An den Wänden bestimmt auch vorbereitete Kletterhaken. Ohne Seil völlig nutzlos. Plötzlich musste sie an Rapunzel denken, die auf dem Turm warten musste, bis ihre Haare so lang gewachsen waren, um sich daran herunterzulassen. Und kein Prinz, der rief »Rapunzel, lass dein Haar herab!« Fast hätte sie darüber lachen müssen, aber die Aussichtslosigkeit ihrer Lage holte sie schlagartig wieder ein. Warum?
Gandalf
Hatte sie jemanden so verärgert, dass er ihr so etwas antat? War sie in "versteckte Kamera" und gleich tauchte ein Filmteam auf? Oder hatten böse Geister, Kobolde, Alben oder schlimmeres ihr einen Streich gespielt? Eine Option unwahrscheinlicher als die andere. Jetzt musste sie an Gandalf im "Herrn der Ringe" denken, der auf dem Dach von Saruman's Turm vielleicht fünfzig Quadratmeter "Freiheit" hatte. Leider kannte sie auch keinen Zauber, der die Adler herbeigerufen hätte, die in Tolkien's Geschichte für Rettung sorgten. War sie verloren?
Kreuzigung
Obwohl, wozu dann die Wasserflaschen, jemand wollte anscheinend, dass sie weiterlebte. Oder sollte das Trinkwasser nur das Leiden verlängern, damit sie ihre ausweglose Situation noch etwas länger "genießen" konnte? So wie das Trittbrettchen unter Jesu Füßen an manchen Kruzifixen. Scheinbar eine gut gemeinte Hilfe, um sich abzustützen, in Wirklichkeit nur eine zusätzliche Foltermethode, eine Verlängerung des Leids, da die Stütze den Tod hinauszögert und dadurch das Leiden verlängerte. Der Tod am Kreuz tritt nämlich meist erst ein, wenn die Muskeln so weit erschlaffen, bis der Gekreuzigte zusammensackt und durch die Zugkräfte am Körper erstickt. Die Beine hielten da viel länger durch als die Arme! Aber Jesu Beine waren ja genagelt, da macht das Brettchen keinen Sinn. »Was für kranke Gedanken hab ich da bloß im Kopf?!«
Vor Jahren war sie selbst geklettert. Mit verschiedenen Freunden und Gruppen. Keine extremen Sachen, aber Klettersteige in den Dolomiten waren kein Problem. Die Kletterhalle in Wunsiedel hatten sie und ihre Freunde genutzt, um sich im Frühjahr von den Skiern unter den Füßen wieder auf schwindelerregende senkrechte Felswände umzugewöhnen. Der Haberstein am Schneeberg im Fichtelgebirge bei Bischofsgrün war gut, um sich wieder an die Höhe zu gewöhnen, und der Höhenglücksteig in der Hersbrucker Schweiz mit zunehmenden Schwierigkeitsgraden von der Ferrata Bambini für Kinder bis zur Schwierigkeitsstufe E war meist der letzte Test vor den Alpen.
Hatte sie vielleicht in einer Felswand einen Stein losgetreten, der einen Bergsteiger unter ihr traf, der sie jetzt als Rache-Engel auf diesen Felsen getragen hat? Oder war's ein Verrückter, der ihr demnächst mit einer Drohne beim Sterben zusah, einen Snuff-Film drehte und teuer verkauft? Rache, Hass, kranke Hirne, Gemeinheiten gibt's genug auf der Welt!
Hilferufe, ungehört!
Wo genau war sie eigentlich? Rund herum Wald, auf der einen Seite der Rufolfstein, auf der anderen Seite der Schneeberg, dann müsste die Felsgruppe die Drei Brüder sein. Da führt ein Wanderweg vorbei. Hoffnung. Obwohl, bei der Hitze ist das Schwimmbad wohl eher angesagt, als schwitzend die Berghänge zu erklimmen. Und ein paar hundert Meter weiter lagen Bäume kreuz und quer, wahrscheinlich Windbruch von dem Gewittersturm letzte Woche. Der Wanderweg unbegehbar? Gesperrt? Doch keine Hoffnung!
Resignation! Am besten, sich in die Sonne legen, schöne Gedanken machen, statt sich die letzten Lebenstage und Stunden das Gehirn mit sinnlosem Grübeln zu vermiesen. Wenn's zu unerträglich wird, bleibt ja jederzeit ein kurzer Ausweg, mit Anlauf und Stil oder mit letzter Kraft hinrobben, Hauptsache Schluss! Ein paar Schlucke Wasser aus einer der Flaschen. Im Blick zwischen Felsklüften: Ein Preiselbeersträuchlein mit sage und schreibe drei Beeren, geplant als Mittagessen für morgen. Obwohl, wenn eine Beere abfällt und in der Felsspalte verschwindet sind's nur noch zwei! Oder wenn beim Mittagsschlaf eine Amsel kommt und alle drei holt, gibt's keine mehr! Also doch das Mittagessen für heute. Sie schmecken sauer, aber, je mehr man kaut … irgendwie himmlisch. Vielleicht die letzte Mahlzeit in meinem Leben!
Auch hier oben wird's komischerweise Abend und Nacht. Mäßige Kühle. Phantastischer Sternenhimmel, die Milchstraße, Flugzeuge, viele davon komischerweise kaum zu hören. Vielleicht eine stabile Luftschichtung, die den Schall reflektiert? Funktionieren die Ohren überhaupt noch? »Kann ich noch sprechen?« Ein Selbstgespräch verläuft positiv. Eingeschlafen erst, als es im Osten schon wieder dämmerte, aufgewacht vom Vogelgezwitscher. Zeit der angenehmsten Temperatur. Tagsüber brennt die Sonne wieder. Dann schweigen die Vögel. Erlebnisse aus der Kindheit kommen in den Sinn, eigentlich längst vergessen, skurrile Nebensächlichkeiten, Kindersorgen, eine seltsame Geborgenheit wie in den Armen der Eltern, Momente ohne Angst, komisch.
Die Gedanken fließen, und obwohl es hier oben nichts zu tun gibt und kein Handy oder Laptop, vergeht die Zeit wie im Flug, keine Langeweile, Gelassenheit. Die Mittagshitze weicht angenehmeren Temperaturen und die Sonne nähert sich schon wieder dem Horizont im Westen. Vielleicht wäre es an der Zeit, wild herumzuschreien, auszuflippen? Kein Bedarf. Besuch von einer Hummel, die zwischen den Preiselbeeren irgendetwas unerfindliches sucht. Sie setzt sich, untersucht das Moos, klettert zum Rand des Felsens und fliegt weg. »Nimm mich mit!«
Nächsten Morgen erwacht sie in ihrem Bett. »Aha, doch nur ein Traum!« Aber der kleine Wundschorf an ihrem Kopf bringt gleich wieder Zweifel. Eine der letzten Erinnerungen "vorher" war das Senden einer WhatsApp an eine Freundin. Datum, Uhrzeit und jetzt das Datum von heute. Schock! Tatsächlich waren dazwischen zwei Nächte! Zwei Nächte und einen ganzen Tag hab ich bestimmt nicht im Bett verschlafen. Und die Kleidung: Schmutzig, abgescheuert, Moosreste im Bett! Und alles ohne Alkohol oder Drogen. »Doch kein Traum!«
Ohne Handy wäre sie bestimmt nicht weggegangen. Folgerung: Betäubt, weggeschafft, gefangen unter freien Himmel, und wieder zurückgebracht. Polizei! Sie stellt sich vor, diese Geschichte zu erzählen. Die Diagnose der Beamten wäre wahrscheinlich: Drogen oder verrückt! Selbstgefährdung? Weiß man nie, also erst mal Bezirksklinik o.ä. »Das glaubt dir keine Sau!« Die Eltern? Würden ausflippen! Die Freundin? Auslachen!
Also, erstmal menschlich machen. Umziehen, duschen. Obwohl, das vernichtet eventuelle forensische Spuren, weiß man ja. Aber Polizei war ja ausgeschlossen. Also einfach vergessen? Alternativen? Keine, also wegschieben und zurück ins Leben, in den Urlaub, dafür bin ich ja da. Badezeug und ab zum See! Werktag, viel Platz, Liegeplätze im Überfluss. Eine Tüte Pommes mit Cola und gemütlich machen, anschließend Abkühlung im See. So passt's. Ein Nickerchen, auch nicht schlecht.
Nach dem Aufwachen: Gottseidank, kein Felsen, sondern immer noch der Weißenstadter See. Neues Grübeln über die seltsamen Erlebnisse von gestern. In die Sonne blinzeln. Da liegt jetzt einer, der war vorhin nicht da. Zwei Badegäste auf Fußballfeldgröße, ziemlich voll hier! Obwohl, irgendwie allein mit einem Mann! Etwas Übergewichtig, kräftig, behäbig, und er schaut auch noch her. Ignorieren! Ein kurzer Schatten, Augen öffnen! »Hallo Anna!«
Der Weißenstadter See im Fichtelgebirge
Adrenalin. Aufspringen, Anschreien. »Was willst du? Wer bist du? Hau ab!«.
Er weicht zurück, geht auf Distanz.
»Ich bin der Tobi, wir haben letztes Jahr mal kurz miteinander gesprochen. Entschuldige! Hast du Probleme?«
»Nein warum? Lass mich in Ruhe!«
»Du hast einen Schatten auf deiner Aura.«
»Natürlich hab ich einen Schatten, hast du keinen?
Und meine Aura hab ich nicht dabei!«
Er lächelt und setzt sich etwas entfernt ins Gras, trotz des Körpergewichts erstaunlich leicht.
»Erzähl mir, was dich bedrückt!«
Aus irgend einem unerfindlichen Grund erzählt sie ihm die Geschichte, die sie eigentlich vergessen wollte. Würde er sie in den Arm nehmen und trösten? Sie wünscht es sich irgendwie. Seltsam.
»Hast du das Gefühl, die Sache ist jetzt zu Ende? Abgeschlossen?«
Stimmt, das Gefühl hat sie irgendwie nicht.
»Man darf solche Erlebnisse nicht wegschieben. Sie gehören zu einem. Sie haben eine Bedeutung! Wollen wir einen Kaffee trinken?«
Im Café am See sind mehr Leute als sie gedacht hätte. Da ist es schattig und angenehm kühl, und sie fragt sich plötzlich, warum sie sich vorhin in die größte Mittagshitze gelegt hat. Hat sie einen Sonnenstich? Erst jetzt, wo der Sonnenschein angenehmer wird, kommen mehr Badegäste auf die Liegewiesen. Er redet von Schatten auf ihrem Energiekörper und von der Erdmutter Gaia …
»Hey, meine Welt ist die Realität, Kausalität. Ich steh mit zwei Beinen auf dem Boden und hab mit Esoterik nichts am Hut.«
»Das sagtest du letztes Jahr schon, aber vielleicht ist genau das das Problem. Wir sind nicht nur Körper und Gehirne, die funktionieren. Es gibt mehr, als man bewusst wahrnimmt. Du hast da eine Leere, und unbewusst möchtest du sie füllen. Manchmal muss man ein bisschen nachhelfen.«
Eigentlich will sie nicht, aber sie hört ihm zu. Und erstaunlicherweise fühlt sie sich verblüffend wohl dabei. Keine Spur von schlechtem Gefühl oder Misstrauen. Ist das nicht genau der Trick von manchen Leuten, vertrauenswürdiges Auftreten, einlullen in schwammige pseudowissenschaftliche Formulierungen, um dann den Menschen das Geld aus den Taschen zu ziehen oder sie in eine Falle zu locken?
Sie bezahlt ihren Kaffee und will seinen mitbezahlen. »Welchen anderen Kaffee?« fragt die Bedienung.
Sie macht einen Spaziergang am Ufer entlang und kann irgendwie garnicht aufhören. In Gedanken versunken hat sie den ganzen See umrundet, vier Kilometer. Die Leere füllen mit dem Bewusstsein, ein Teil der Welt zu sein, das heißt, die Welt ist auch ein Teil von mir. Ich nehme sie an. Geborgenheit als Teil der Welt.
Nicht danach fragen, ob es real ist, sondern ob es mir gut tut.
Es annehmen. Vielleicht geschehen manche Dinge deshalb, weil ich sie brauche. Nur das verändern, was nicht guttut. Gesunder Egoismus.
Fällt mir das gerade ein, oder hat er das vorhin gesagt? Ist das nicht eigentlich egal? Wo ist mein Handy? Ach ja, das liegt seit Tagen zu Hause rum. Sonst hatte sie bei fünf Minuten ohne Handy schon das Gefühl, nackt rumzulaufen. Was haben wir für einen Wochentag? Wie lange habe ich noch Urlaub? Wie stellt man das fest, ohne Handy? Was habe ich heute schon gegessen? Was esse ich auf Abend? Total unwichtige Fragen, komisch.
Am nächsten Tag weckt sie die Hausbesitzerin: »Hat es Ihnen bei uns gefallen? Werden Sie nächstes Jahr wiederkommen?« Aha, mein Urlaub ist aus. Daheim fragt die Freundin sie »Was hast du denn im Urlaub alles unternommen?« Wie kann man nur so unwichtige Fragen stellen! »Ich hab mich erholt.«
»Du wirkst so anders, entspannt.«
»Das will ich doch hoffen!«
Die frühe Fahrt zur Arbeit fällt ihr viel leichter. Die Arbeit selbst auch, und die Kollegen sind viel freundlicher. Am Abend die Freunde, sie freuen sich alle, sie zu sehen. Einer schaut sie immer wieder an …
Nächstes Jahr werde ich bestimmt wieder hinfahren. Vielleicht treffe ich ihn ja auch wieder. Vielleicht gibt's noch was zu ‐ verändern!